Man stelle sich nur vor! Sogar ein kleines Kind, das hilflos in einer Hütte liegt, kann nicht einem namenlosen Unglück entgehen! Das dachte Omeriah, als er hinaussah auf die regenfeuchte Landschaft, noch immer im Bann des Wolkenbruchs.
Und doch, so frühe Einwirkungen auf die Lebensseele von Ciddys Kind hätten möglicherweise verhindert werden können. Die Mutter des Jungen war nicht einmal getauft gewesen, bevor sie schwanger wurde. Das dumme, jämmerliche Mädchen hatte hinuntergebracht werden müssen in die Shiloh Church ot the Lord Jesus Christ of the Apostolic Faith im Dorf Alva, um, verfolgt von ›susu‹ (Klatsch), im Taufbecken unter der eilig vollzogenen Leitung durch Elder Thomas getauft zu werden.
»Auf was für ein dummes und unschickliches Treiben hat sich meine Tochter da eingelassen, die jetzt ein kleines Balg zur Welt gebracht hat!« Omeriah bellte mit tiefer und rauer Stimme, bevor er sich noch einen Schluck Rum genehmigte. Sie war verfuhrt worden von diesem alten ›bockra busha‹ (weißhäutigen Aufseher) in seiner roten Uniformjacke, den Leinenhosen und Schaftstiefeln, Captain Marley vom British West India Regiment. Marley war ein Pfeife paffender Oberaufseher für die Ländereien der Krone, der vor fast zwei Jahren auf einem schönen Pferd, das die Regierung bezahlt hatte, nach Nine Miles hineingeritten kam und versuchte, die armen Leute zu bewegen, Getreide anzubauen oder gar in den abgelegensten Teilen des ›John Williams‹-Dschungels zu siedeln, den fast unbewohnten ›bridal lands‹ jenseits der Stelle, an der die unwegsamsten Straßen aufhörten.
Mit dergleichen war er tagsüber beschäftigt. Und des Nachts, als Untermieter im Big House, hatte der kleine leise Mann es mit Malcolms siebzehnjähriger Tochter Ciddy getrieben! Das alberne Mädchen, sich ins Bett zu legen mit einem weißen Mann, der zwei oder drei Jahre älter war als ihr Vater! Wenigstens hatte Marley den Anstand besessen, sie Monate später zu heiraten, aber es war von Anfang an Teufelsspiel gewesen. Ein dummes ›bungo-bessy‹ (Adjektiv für unziemliches Verhalten eines Mädchens vom Lande)-Verhältnis in plumper Heimlichkeit, unterhalten bei unerlaubten Verabredungen, angestiftet von einem Britisch-Jamaikaner mit Geld und Stellung, der ein unschuldiges schwarzes Mädchen mit einer Unverfrorenheit in sein Bett gelockt hatte, die an die Ausschweifungen gemahnte, denen die Plantagenbesitzer in der Sklavenzeit frönten.
Und dann kommt so ein Kreolen-›pickney‹ (Kleinkind) auf die Welt, Robert genannt nach Marleys Bruder – nicht nach Omeriahs Vater –, aber nichtsdestoweniger immer noch ein ›Sklavenname‹. (Nach Ansicht der Familie war Robert Malcolm ursprünglich der Name eines Plantagenbesitzers, den er dann Uncle Day gab.) Und wo ist Captain Marley jetzt, da sein Sohn leidet? Nach Kingston hat er sich getrollt, weil seine Familie es für eine Schande hält, so idiotisch zu sein und ein ›foo-foo‹ (foolish, dumm) Mädchen vom Lande rechtmäßig zu heiraten, das naiv genug ist, seine ›fuck-a-bush‹ (hinterwäldlerische Verführung) Liebesworte für bare Münze zu nehmen!
Zumindest hätte der Junge, dies Ergebnis einer bedauernswerten Verbindung, einen Namen aus der Bibel erhalten können, der eine Beziehung zu Afrika und der Kultur seines Volkes hatte, so wie Omeriah und seine Brüder, Joseph, Nemiah, Ramses und Isaac. »Ya mon! Wenigstens ein bisschen Vorsicht bei den Namen«, knurrte Omeriah voller Ingrimm, nahm den letzten Schluck Rum aus der Flasche und warf sie dann in den Ascheneimer neben der Eingangstür. Jetzt war da ein Baby, Opfer seiner Abstammung, ausgesetzt allen kulturellen Widerwärtigkeiten, nirgends hin gehörig, mitten zwischen den Fronten. Auf Jamaika sind die afrikanischen Traditionen der Sklaven und ihrer Nachkommen ständig in Auseinandersetzung mit den europäischen Traditionen der weißen Herrscher. Aber sogar unter den Schwarzen werden die Werte der Weißen und Mulatten ganz offen ihrem eigenen, eigentlich natürlichen Akan-Westindien-Ethos vorgezogen. Omeriah jedoch teilte nicht die weitverbreitete Meinung, dass es besser sei, braun zu sein als schwarz, hell als braun. Und dass die statusbewussten jamaikanischen Schwarzen dahergingen und schwere englische Stiefel und die dunklen Anzüge aus Manchester-Serge in der heißen tropischen Sonne trugen und zudem noch versuchten, so zu sprechen, als hätten sie in Oxford die Universität besucht, das kam ihm vor wie der reine Wahnsinn.
Der Junge wird viel Zeit haben, die Kümmernisse seines Erbes herauszufinden, dachte Omeriah. Und was machte es schon aus? Je schlimmer die Dinge wurden, je besser die Dinge wurden, desto mehr blieben sie doch gleich. Omeriah erinnerte sich daran, was sein Vater immer zu sagen pflegte: »Changey for changey, black daag fe monkey.« Eine Weisheit, die von Hass auf sich selbst und Resignation getränkt war. Der Affe stand für den farbigen Mann und der Hund für den vollblütigen Schwarzen. Die Aussage: Es war überhaupt nichts zu gewinnen durch den Tausch: Man ist hinterher genauso schlecht dran wie zuvor.
Durch und durch missmutig und besorgt, weil böse Kräfte unter ihnen aufgetaucht waren im Verlaufe des Tages, ging Omeriah hinter den Schweinekoben, um sich in der zunehmenden Dunkelheit zu erleichtern. Die letzten Spuren der Dämmerung hingen über den Baumwipfeln, als er ins Bett ging, und er schlief unruhig. Am Abend zuvor hatte er vom Tod geträumt, ein sicheres Zeichen dafür, dass in der Familie eine Geburt bevorstand. In dieser Nacht träumte er von Kupfer und von tierischen Exkrementen, beides gute Omen. Und dann, tief in der Nacht, träumte er von Feuer, was Verwirrung bedeutet, und von Schlangen, ein Zeichen, dass die Feinde auf die Zerstörung einer geliebten Person sannen.
Er stand um drei Uhr früh auf und machte sich auf den Weg hinüber zu Grandma Yaya. Es war ihre Angewohnheit, sich jeden Abend gegen sechs oder sieben zur Ruhe zu begeben, wenn es kühl war, und dann um Mitternacht aufzustehen, um in der Küche des Big House zu kochen. Wie viele Jamaikaner vom Lande fürchtete auch Omeriah die Nacht und mochte allein nach Sonnenuntergang auch nicht die kürzesten Entfernungen zurücklegen, aber der Ziegenpfad rüber zu Yaya war deutlich auszumachen und oft genug gegangen. Meistens erwartete sie ihn schon und bot ihm stolz ein herzhaftes ›wash-mouth‹ (Frühstück), das aus Ackee-Suppe bestand, frittiertem Kabeljau, genannt ›stamp-and-go‹, gebackener Papaya, Yams und ›bammy‹ (Brötchen aus Maniokmehl).
Und dann saßen sie im Licht der Feuerstelle aus Stein an der Küche bis zum Morgengrauen, und sie aßen und tranken schwarzen Kaffee, den sie anreicherten mit Rum aus ihrer großen Korbflasche, und sie sprachen über das Farmleben, das Wetter, über Begebenheiten am Ort und ihre Bedeutungen, über Familienstreitereien, die Bedeutung von Träumen, die sie gerade gehabt hatten, und darüber, wie man die Kräfte der Düsternis fernhalten könne vom Clan. (Auch Yaya war wohlversiert in den Dingen des Mystischen.)
In dieser Nacht, als krächzende Eidechsen, schrille Zikaden und kreischende ›patu‹ (Eulen) einander in der Stille antworteten, konnten Omeriah und Yaya von kaum etwas anderem sprechen als von Ciddy und den Ereignissen des letzten Jahres. Keiner von ihnen vermochte zu verhehlen, welche Sorgen er sich um das spirituelle und körperliche Wohlbefinden von Kind und Mutter machte. Attackiert von Dämonen und verlassen von Captain Marley, schienen sie bestenfalls ein gefährdetes Schicksal vor sich zu haben.
Zwei Monate später passierte etwas, das Omeriahs und Yayas schlimmste Befürchtungen nur unterstützte. An demselben Morgen, als Ciddy mit ihrem Kind aus Omeriahs Haus ausgezogen war und ihre eigene Hütte bezogen hatte, entkleidete sie das Baby in seinem neuen Heim, nahm ihm sorgsam Yayas Amulett ab und badete es dann in der weißen Emailschüssel, wobei sie ein neues Stück von der braunen Seife benutzte, die sie gerade im Laden gekauft hatte. Frisch gewaschene Kleider zum Wechseln lagen neben dem Kind, und sie hatte begonnen, es zu pudern, als ihr auffiel, dass das Amulett nirgends zu sehen war. Sie begann es zu suchen, auf allen Tischen, zwischen den Kleidern, die sie ihm ausgezogen hatte. Sie rutschte auf den Knien herum und sah in jeden Winkel, jede Ecke, jede Ritze. Wieder und wieder und wieder. Und als ihre Sorge und Nervosität ihren Höhepunkt erreichten, da fuhr ein plötzlicher, eiskalter Windhauch über sie, und ihr ganzer Körper war auf einmal bedeckt von Gänsehaut.
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