Die Marvel-Supermänner (und -frauen) waren außerdem Wissenschaftler. Die Fantastic Four waren Astronauten. Der Hulk war ja eigentlich Bruce Banner, ein Physiker. Henry Pym, Ant-Man, war ein Teilchenphysiker. Spinnenmann Peter Parker war ein Wissenschaftsstudent. Don Blake alias Thor war Arzt. Aber Lee und seine Mitarbeiter – vor allem ein neu entbrannter Jack Kirby, der sich am Anfang seiner absoluten Hochphase befand, sowie Steve Ditko – sollten auch die dunklen Seiten des akademischen Superhelden zu Tage fördern.
Lee und Ditko schufen zusammen gleich den nächsten Hit für Marvel: Spider-Man. Eine weitere Neuerung: ein Superheld im Teenager-Alter, der kein Sidekick, nein, sondern der Star seiner eigenen Serie war. Und sein Name beinhaltete weder „Kid“ oder „Kumpel“. Peter Parker war, wie Lee am Ende des ersten Abenteuers schrieb, „der Held, der du sein könntest“. Er brachte eine neue Dimension an Realismus in die Superhelden-Comics und löste damit eine weitere Revolution aus. Parker, ein Nerd mit Brille, wurde der Welt im August 1962 in Amazing Fantasy #15 vorgestellt: „DAS EINZIGE PROFESSIONELLE MAUERBLÜMCHEN AN DER MIDTOWN HIGHSCHOOL.“
Es ist unwahrscheinlich, dass sich die jungen Leser der Superhelden-Comics mit Barry Allen oder Hal Jordan, attraktiven jungen Männern mit Karrieren und Freundinnen, identifizieren konnten. Doch Peter Parker entstaubte den Archetypus von Clark Kent und gab den Lesern einen Helden, der ein Teenager war und sich auch so benahm. Er konnte seinen Außenseiter-Status nicht mildern, indem er auf einen Job als Reporter oder einen Uni-Abschluss verweisen konnte. Sein linkisches Benehmen, seine verstohlene Art, seine Unsicherheit und seine ihn zermarternden Schuldgefühle unterschieden Spider-Man fundamental von den wohlerzogenen, sauberen Teenagern des 30. Jahrhunderts, die in den Legionen der DC-Helden oder in der Marvel-Family dienten. Diese Umstände ließen ihn aber dafür umso vertrauter wirken.
Das erste Mal begegnete man Peter Parker – er sprang weder durch die Luft, noch machte er Schurken dingfest –, als er, isoliert und in respektvollem Abstand, neben einer Gruppe lästernder Jugendlicher stand. Die physische und emotionale Distanz schien unüberwindbar. Der personifizierte Bücherwurm, mit hängenden Schultern, abgetragenen Klamotten und großen, runden Brillen, starrte hinüber zu den beliebten Kids, die über die absurde Idee, Peter zum Tanz einzuladen, kicherten. In einer Hand hielt der seine Schulhefte. Es war eine Szene, wie sie auf jedem Schulhof zu sehen ist, und viele von Spider-Mans jungen Lesern projizierten sich sofort auf den ruhigen, zurückhaltenden Peter Parker. Doch da war etwas Spezielles, Seltsames und Wunderbares an Peter. Anders als an Peter Pan haftete an ihm ein Schatten. Tatsächlich schien er in der Cover-Illustration einen dreigeteilten Schatten zu werfen: Man sah einen stolzen, muskulösen Mann mit in die Hüften gestemmten Händen, im Zentrum eines Spinnennetzes, die Umrisse einer riesigen Spinne über seinem Kopf. Offensichtlich war mehr an dem scheuen Mauerblümchen als mit bloßem Auge zu erkennen war. Das Bild war bereits atmosphärisch, aber Lee hatte gerade erst begonnen.
Lees begleitende Bildtexte repräsentierten keine leidenschaftslose Autorenstimme, sondern versprühten einen kumpelhaften Geist, der einen fühlen ließ, dass er, der Autor, bei seinem Leser wäre, mit ihm zusammen den Comic lesen und vor denselben schlimmen Situationen erschaudern würde. Der Comic selbst wurde zum Kumpel. Lee injizierte seine eigene Persönlichkeit in kleine Fußnoten, die Verbindungen zwischen Storys herstellten und die Leser an auffällige Fakten erinnerten – und das alles in Stans augenzwinkerndem „Hey-wie-geht’s-Kumpel?“-Stil. Und dann kam „Stan’s Soapbox“, eine regelmäßig erscheinende Bulletin-Kolumne, in der Stan rauslassen konnte, was ihn gerade bewegte. Meistens promotete er neue Marvel-Comics in leicht überspitztem Stil, nicht ohne eine gewissen ironische Distanz zu halten, doch oft ließ er seinen Gefühlen bezüglich Bürgerrechten und Weltfrieden freien Lauf.
Manchmal sprach er sogar darüber, welche Lichtgestalten der Nouvelle Vague den Büros von Marvel einen Besuch abstatteten: Federico Fellini, Alain Resnais und Jean-Luc Godard. Meist waren es „abgefahrene Franzosen“, wie Lee es ausdrücken würde, die die Comics schon lange in den Kanon ihrer Kultur, und zwar in Form von teuer gebundenen Dessinées oder Fumettis, aufgenommen hatten. Clevere und innovative Comic-Künstler, wie sie in Lees Crew saßen, mussten sich den französischen Autorenfilmern nicht beweisen, wohingegen der amerikanische Mainstream kaum Notiz nahm vom Artwork, der Sprache oder den radikal neuen Erzählstrukturen ihrer Arbeiten. Nicht vielen war die neue Underground-Mythologie überhaupt ein Begriff. Innerhalb von zehn Jahren sollte das Marvel-Universum jenes von DC als erfolgreichstes, sowohl bei den Verkaufszahlen als auch bei der Zustimmung der Fans, überflügeln.
Ab 1965, mit einem erfolgreichen Stall voller neuer und unkonventioneller Superhelden, darunter der Hulk, Daredevil, Iron Man, Thor und Giant Man, ließ Lee auf jede neue Ausgabe das Banner „A MARVEL POP ART PRODUCTION“ drucken. Einerseits, um sich von seinen biederen Mitbewerbern bei DC (er nannte sie liebevoll „Brand Echh“) abzuheben, andererseits, um sich mit der Popkultur im Allgemeinen zu assoziieren. Stan stachelte eine erbitterte Rivalität zwischen Marvel und DC an, doch der Gigant schenkte ihm keine Aufmerksamkeit, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Aber die neuen Helden aus dem Hause Marvel strahlten eine so hohe Originalität und so viel Persönlichkeit aus, dass sie DCs Produkte daneben alt aussehen ließen und sie dazu zwangen, sich zu verändern, um noch mithalten zu können.
Die allerersten Worte in den Spider-Man-Comics signalisierten die neue Nähe zwischen dem Leser und den Comic-Machern, die zu Marvels Markenzeichen wurde. „MAGST DU VERKLEIDETE HELDEN?“, fragte Lee, obwohl wir das ja wohl mussten, wenn wir das Heft gekauft hatten. Es war selten, dass die Leser so direkt nach dem Produkt in ihren Händen gefragt wurden. Dann ließ er uns an ein paar Geschäftsgeheimnissen teilhaben, um unser Vertrauen zu gewinnen: „IM VERTRAUEN, WIR IM COMIC-BUSINESS NENNEN SIE STRUMPFHOSEN-CHARAKTERE! UND WIE IHR WISST, GIBT ES SIE WIE SAND AM MEER! ABER WIR GLAUBEN, DASS IHR UNSEREN SPIDERMAN EIN BISSCHEN … ANDERS … FINDEN WERDET!“
Mit einem kurzen Bildtext wurde Lee zu einem Freund, einem Vertrauten. Er erinnerte uns gleich zu Beginn, dass wir eine erfundene Geschichte lesen würden, dann schuf er mit Ditko eine Story, die so unwiderstehlich war, dass sie einen in sich hineinsaugte, und das, obwohl sie ja nur fiktiv war. Was für eine große selbstdarstellerische Leistung. Die Story war perfekt aufgebaut, und das auf gerade mal elf Seiten. Als Brian Michael Bendis im Jahr 2000 beauftragt wurde, den Ursprung Spider-Mans für eine neue Generation von Lesern neu zu erzählen, brauchte es sechs 22-seitige Ausgaben, um dieselbe Geschichte im „dekomprimierten“ Drehbuchstil der Comics des 21. Jahrhunderts wiederzugeben.
Peter lebte wohlbehütet bei seinen ältlichen Beschützern, Tante May und Onkel Ben, wurde aber von jedem Mädchen, das er traf, zurückgewiesen.
„EINES TAGES WERD ICH ES IHNEN NOCH ZEIGEN! [Schluchz] EINES TAGES WIRD ES IHNEN LEID TUN – LEID TUN, DASS SIE MICH AUSGELACHT HABEN.“
Zum Glück für unseren Helden sollte „eines Tages“ schon wenige Minuten später eintreffen, als Peter von einer Spinne gebissen wurde, welche versehentlich eine ungewöhnlich hohe Strahlendosis während eines wissenschaftlichen Versuchs abbekommen hatte. In der realen Welt wäre Peter an der Strahlenkrankheit erkrankt und in verwirrter Agonie und ohne Haare und Zähne nach wochenlangem Siechtum gestorben. Jedoch befand er sich im Marvel-Universum, das seine eigenen Regeln hatte. Im Marvel-Universum war radioaktive Strahlung so etwas wie Feenstaub: bestäube damit einen Wissenschaftler, und – voilà! – ein Superheld ward geboren. Strahlung war verantwortlich für die Ursprünge der Fantastic Four, Spider-Mans, des Hulks, der X-Men, Daredevils und vieler weiterer früher Marvel-Charaktere, für die sich die gefürchteten Isoptope in wunderbare Brennstäbe der ungeahnten Möglichkeiten verwandelten. Lee stahl der Bombe ihre verheerende Strahlung und nutzte sie, um die Dunkelheit für Kinder wie mich – die im eisigen Schatten der Bombe aufwuchsen – mit außergewöhnlichen Helden zu beleuchten.
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