2.3.6.2 Dietrich Bonhoeffer
Dietrich Bonhoeffer (1906–1945, Schäfer 2020c) setzt sich als Jungsekretär des Weltbundes christlicher Studenten, als Pfarrer und als Hochschullehrer bewusst für ein Leben in Frieden und in Gerechtigkeit mit einer Orientierung an der Bergpredigt ein. Schon frühzeitig engagiert er sich im politischen Widerstand gegen das Regime der Nationalsozialisten. Kurz vor Ende des Krieges stirbt er auf Befehl Hitlers im Konzentrationslager Flossenbürg in Bayern. Bis in die heutige Zeit wird er als Märtyrer und als ein Befürworter der Ökumene verehrt (ebd.). In seinem Gedicht Jedes Werden braucht Geduld (Bonhoeffer 2015, S. 7) beschreibt Bonhoeffer vergleichbar mit Rilke (vgl. Kapitel 2.3.5.3), wie sich alle Lebensprozesse durch eine wartende Haltung, Geduld und Zeit hin zu einem „Blühen“ (ebd.) als gewünschtem Zustand entwickeln.
2.3.6.3 Madeleine Delbrêl
Aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen entscheidet sich die überzeugte Atheistin (vgl. Georgens und Delbrêl 2004) Madeleine Delbrêl (1904–1964, vgl. Voigt 2010) für ein Studium der Philosophie und Kunst. Als sie in eine familiäre Krise gerät, erlebt sie eine Begegnungserfahrung, in der sie Gott für sich entdeckt (ebd.). Sie schließt sich einer Pfarrgemeinde in Paris an, lässt sich als Sozialarbeiterin ausbilden und übernimmt zusammen mit einer Freundin die Leitung einer Sozialstation während des Zweiten Weltkrieges und entscheidet sich für das Leben in einer spirituellen Gemeinschaft mit anderen Frauen (vgl. Georgens und Delbrêl 2004). Delbrêl setzt sich als „Mystikerin der Straße“ (Delbrêl und Schleinzer 2007, S. 36–38) in dem kommunistisch geprägten Pariser Vorort Ivry für die Anliegen der Arbeiter*innen sowie die Wahrnehmung der Lebenssituation der ärmeren Bevölkerung in einem Christentum in einer säkularisierten Welt ein (vgl. Delbrêl 1991; Delbrêl und Schleinzer 2007). Aufgrund dieser Erfahrungen wird sie als Beraterin für das Zweite Vatikanische Konzil tätig (vgl. Voigt 2010, S. 183–184; Georgens und Delbrêl 2004). Auch die 1993 als „Dienerin Gottes“ (Voigt 2010, S. 183–184) selig gesprochene Delbrêl (2007) wird durch die Erfahrung von Leid während des Zweiten Weltkrieges intensiv geprägt. In ihrem Gedicht Die kleinen Übungen der Geduld (Delbrêl 2010, S. 197–198) beschreibt Delbrêl, wie anstrengend die Menge der Aufgaben und Belastungen des Alltages besonders aus Sicht einer Frau sind (vgl. Delbrêl und Schleinzer 2007, S. 36–38; Delbrêl in Voigt 2010, S. 183–184). Diese Erfahrungen definiert Delbrêl als „kleine Geduldsübungen“ (ebd.), die als „Partikel“ (ebd.) zu einer „großen Passion“ (ebd.) als Sinnbild einer einzigartigen Leidenschaft oder einem Lebensziel hinführten. Sie erfüllten sich jedoch nicht in persönlichem Ruhm, auch nicht im individuellen Überleben, sondern einzig in der „Ehre“ (ebd., Anm. BSB: gemeint ist die Ehre Gottes). Delbrêl vergleicht die „kleinen Übungen der Geduld“ (ebd.) mit einem „Martyrium“ (ebd.) und einem „Opfer“ (ebd.), die auf diesem Weg zu erweisen seien.
2.3.6.4 Dorothee Sölle
Dorothee Sölle (1929–2003)72 setzt sich mit den Themen der Friedens- und Ökologiebewegung, der Schöpfung, den Rollen von Frauen sowie den Fragen der Macht und der Gerechtigkeit auseinander (vgl. Sölle 1999). Ihr Werk steht für eine intensive Verbindung von Mystik, Widerstand und Befreiung. In ihrem Gedicht Ich kann dich nicht mitteilen (Sölle 1982, S. 9) klagt Sölle darüber, wie kräftezehrend es für sie ist, als Frau und als Theologin weder in der Kirche noch privat respektiert zu werden, wenn sie von ihrem Glauben spricht. Sie zieht dabei einen Vergleich zwischen ihren „klügeren“ Freunden (ebd.),73 mit denen sie ihre gebildeten Freund*innen meint, die ihr zu einem Richtungswechsel raten, ihren „dümmeren“74 Freunden, mit denen sie ihre bodenständigen Freund*innen bezeichnet, deren Rat zur Geduld ihr vertrauenswürdiger erscheint, „weil sie alles teuer bezahlen würden“ (ebd.) und ihren „feinden“ (sic, ebd.),75 die sie im klerikalen Kontext verortet sieht. Sölle zeichnet in ihrem Gedicht das Bild einer Geduld, die nicht intellektuell verstehbar, sondern nur im praktischen Alltag erfahrbar sei. Darin berge die Geduld als Alltagsressource aber auch die Gefahr, dass sie einen hohen Preis haben könne (vgl. ebd.). Für Sölle äußert sich in jeder Erfahrung und jedem Handeln des Menschen immer ein Wirken Gottes, das als mystisches Erleben beschrieben werden kann (vgl. Voigt 2010, S. 223–224; vgl. Kapitel 2.2.9). Damit positioniert sie sich in inhaltlicher Nähe zu Karl Rahner, der davon ausgeht, dass jeder Mensch zu einer erfahrungsorientiert-mystischen Theologie fähig sei (vgl. Sölle 1997, S. 31–37), was sich auch in seinem Verständnis der Geduld widerspiegelt.
2.3.6.5 Karl Rahner
Im Jahr 1982 erklärt Karl Rahner (1904–1984)76 an der Universität Tübingen in seinem Vortrag Über die intellektuelle Geduld mit sich selbst (Rahner 1983), dass die Geduld mit der eigenen Person besonders schwierig sei, obwohl sich in ihr über die Gelassenheit die Freiheit zeige (vgl. Rahner 1983, S. 42). In seinen Ausführungen geht er auf das Verhältnis der stark gewachsenen Wissensbestände zur beschränkten Möglichkeit des Menschen ein, diese in einem Leben durchdringen zu können. Provokativ verfolgt er die These, dass der einzelne Mensch verglichen mit dem Menschheitswissen immer „dümmer“77 (Anm. BSB: In der Wortwahl Rahners) geworden sei, da er die Welt nicht mehr in übersichtlichen Kategorien beschreiben könne. Dies verlange im interdisziplinären Dialog, mit dem Rahner besonders die wissenschaftlichen Zuhörer*innen anspricht, einen respektvollen Umgang mit dem Wissen bzw. Nichtwissen der eigenen Person sowie anderer Personen (vgl. Rahner 1983, S. 6, S. 53–54). Die Geduld sieht Rahner als Bedingung an, um Nichtwissen ertragen zu lernen. Er vergleicht sie mit einer Vorstufe zur „docta ignorantia“ (Rahner 1983, S. 54–55), der Lehre des Nichtwissens, in der östliche wie westliche Mystiker ihre Erfahrung beschreiben, über die sie durch mentale Versenkung mit dem Göttlichen in Berührung kommen. Christliche Verantwortung sei es, in der Orientierung am Leben und Sterben Jesu geduldig die Widersprüchlichkeiten des Lebens auszuhalten, die Verantwortung des Mystikers bestehe darin, sich den Bedürfnissen der Armen in ihrem Alltag zuzuwenden (vgl. ebd., S. 54–55). Die Geduld, die Rahner als „Ausharren in der heutigen Spannung zwischen rationaler Einsicht und freier Entscheidung“ (ebd., S. 61) definiert, erfordert seiner Ansicht nach, die Fähigkeit des Menschen, mit seinen „Unzulänglichkeiten“ (ebd., S. 62) zurechtzukommen. Rahner betont, dass der Mensch „wie in winterlicher Zeit, mit sich Geduld haben müsse“ (ebd. S. 63).
2.3.6.6 Eberhard Jüngerl
Eberhard Jüngerl (geb. 1934)78 geht in seinem Vortrag Gottes Geduld – Geduld der Liebe (Jüngerl 1983) in der mit Rahner gemeinsam veröffentlichten Monografie Über die Geduld (Jüngerl und Rahner 1983) von einem leidenschaftlichen Gottesbild aus. Dort heißt es: „Gott ist geduldig – nicht obwohl, sondern weil er so leidenschaftlich ist“ (Jüngerl 1983, S. 11). Der Mensch ist ihm zufolge durch die Verbindung mit der Liebe Gottes in seiner Geduld und seiner Ungeduld leidenschaftlich. Die Geduld im Speziellen ist für Jüngerl „der lange Atem der Leidenschaft“ (ebd., S. 11). Auch die „Leidenschaft der Hoffnung“ (ebd., S. 24) wurzelt aus seiner Sicht in der Geduld. Am Vorbild der Geduld Gottes erfahre der Mensch, wie Gott ihm Raum und Zeit lasse, auch wenn seine Liebe einmal unerwidert sei (vgl. ebd., S. 29). Das Ziel der Geduld sei daher die Liebe und deren Triumph, die Zeit sowie Durchhaltevermögen erforderten (vgl. ebd., S. 11).
2.3.6.7 Kurt Marti
Kurt Marti (1921–2017)79 setzt sich in seiner Arbeit für ein Christentum ein, das sich sozial engagiert. In seinen Texten reflektiert er wie Sölle besonders den Vietnamkrieg, die Globalisierung, die atomare Bedrohung und die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche. In seinem Gedicht „kirche hochzeit zwischen geduld und revolte“ (Marti 2011, S. 44)80 wendet er sich kritisch der Organisation Kirche und ihrem Umgang mit Macht zu. In der Formulierung „brüder stiftend in frommen verstecken die hochzeit zwischen geduld und revolte“ (sic, ebd.) äußert er seine Hoffnung auf strukturelle Veränderung in der Kirche über eine revolutionierende politische Eigenschaft der Geduld.
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