1 ...8 9 10 12 13 14 ...32 Mrs. Sowerberry schaute nicht wenig verwundert auf. Das bemerkte Mr. Sowerberry natürlich, und so fuhr er, ohne der guten Dame Gelegenheit zu Einwänden zu geben, fort:
»Ich meine keinen richtigen Leichenzügler für die Erwachsenen, meine Liebe, sondern nur für die Kinder. Es wäre wirklich etwas Neues, einen Leichenzügler in passender Größe zu haben. Verlasst Euch drauf, meine Liebe, es würde den allerbesten Eindruck machen.«
Mrs. Sowerberry, die einigen Sachverstand besaß, was das Bestattungsgewerbe betraf, war von der Originalität dieses Einfalls sehr angetan, aber da es unter den gegebenen Umständen ihrer Würde abträglich gewesen wäre, dieses einzugestehen, fragte sie lediglich mit einiger Schärfe, warum ihrem Gatten ein solch naheliegender Gedanke nicht schon eher in den Sinn gekommen sei. Da Mr. Sowerberry dies ganz richtig als Zustimmung zu seinem Vorschlag auslegte, wurde umgehend beschlossen, Oliver auf der Stelle in die Geheimnisse des Gewerbes einzuweihen, zu welchem Zwecke er seinen Lehrherrn bei der allernächsten Gelegenheit, wenn dessen Dienste benötigt würden, begleiten solle.
Die Gelegenheit ließ nicht lange auf sich warten. Am nächsten Morgen betrat Mr. Bumble eine halbe Stunde nach dem Frühstück die Werkstatt, lehnte seinen Stock gegen den Ladentisch und holte seine große lederne Brieftasche hervor, der er ein kleines Schnipsel Papier entnahm, um es Mr. Sowerberry zu überreichen.
»Aha!«, rief der Leichenbestatter und warf einen neugierigen Blick darauf. »Die Bestellung für einen Sarg, was?«
»Erst für einen Sarg, dann für ein Armenbegräbnis«, erwiderte Mr. Bumble und zog den Riemen der ledernen Brieftasche, die, wie er selbst, recht dickleibig war, wieder fest.
»Bayton«, las der Leichenbestatter und schaute von dem Schnipsel Papier zu Mr. Bumble. »Diesen Namen habe ich noch nie gehört.«
Bumble schüttelte den Kopf, als er antwortete: »Widerborstige Leute, Mr. Sowerberry, äußerst widerborstige Leute. Obendrein noch stolz, wie ich leider sagen muss, Sir.«
»Stolz, was?«, entfuhr es Mr. Sowerberry höhnisch. »Na, das ist ja wohl das Letzte.«
»Ja, unerträglich«, erwiderte der Büttel. »Geradezu übelkeiterregend, Mr. Sowerberry!«
»So ist es«, pflichtete ihm der Leichenbestatter bei.
»Wir haben erst vorletzte Nacht überhaupt von der Familie erfahren«, sagte der Büttel, »und auch nur deshalb, weil eine Frau, die im selben Haus logiert, bei den Behörden vorstellig geworden war, damit sie den Amtsarzt schicken, um sich eine Weibsperson anzusehen, der es sehr schlecht geht. Der Doktor war jedoch gerade zum Essen, aber sein Gehilfe, ein blitzgescheiter Kerl, hat ihnen auf der Stelle in einem Fläschchen für Schuhwichse etwas Medizin geschickt.«
»Ah, das nenne ich kurz entschlossen gehandelt«, bemerkte der Leichenbestatter.
»Kurz entschlossen, das will ich meinen«, erwiderte der Büttel. »Aber was ist die Folge, wie undankbar verhalten sich daraufhin diese Störenfriede, Sir? Der Gatte lässt ausrichten, die Medizin sei für das Gebrechen seiner Frau nicht geeignet, also würde sie sie nicht nehmen … sagt, sie würde sie nicht nehmen, Sir! Gute, starke, gesunde Medizin, wie sie erst eine Woche zuvor zwei irischen Arbeitern und einem Kohlenträger verabreicht worden war … kriegen sie umsonst, samt nem Fläschchen für Schuhwichse … und er lässt ausrichten, sie würde sie nicht nehmen, Sir!«
Wie diese Greueltat Mr. Bumble mit aller Macht vor Augen trat, schlug er mit seinem Stock fest auf den Ladentisch und lief vor Empörung rot an.
»Also wirklich«, rief der Leichenbestatter, »das hätte ich ja nie-hie-mals …«
»Niemals, Sir!«, stieß der Büttel hervor. »Ihr nicht, und auch sonst niemand, aber jetzt ist sie tot, und wir müssen sie beerdigen, so lautet die Vorschrift, und je eher die Sache erledigt wird, desto besser.«
Bei diesen Worten setzte sich Mr. Bumble den Dreispitz im Eifer seiner amtlichen Erregung verkehrt herum auf und stürmte aus der Werkstatt.
»Tja, Oliver, er war so aufgebracht, dass er nicht einmal nach dir gefragt hat«, bemerkte Mr. Sowerberry, der dem Büttel nachschaute, wie er schnellen Schrittes die Straße hinabeilte.
»Ja, Sir«, entgegnete Oliver, der sich während der Unterredung mit Bedacht verborgen gehalten hatte und noch bei der Erinnerung an den Klang von Mr. Bumbles Stimme von Kopf bis Fuß bebte. Er hätte sich jedoch die Mühe sparen können, sich den Blicken Mr. Bumbles zu entziehen, denn dieser Beamte, auf den die Prophezeiung des Herrn in der weißen Weste tiefen Eindruck gemacht hatte, war der Meinung, das Thema sei, solange Oliver sich auf Probe beim Leichenbestatter befand, besser zu meiden, bis dieser für sieben Jahre fest gebunden und die Gefahr, dass er wieder der Gemeinde zur Last falle, ein für alle Mal gesetzlich gebannt sei.
»Gut«, sagte Mr. Sowerberry und nahm seinen Hut, »je eher wir dieses Geschäft hinter uns bringen, desto besser. Noah, gib auf die Werkstatt acht. Oliver, setz deine Mütze auf und komm mit.« Oliver gehorchte und folgte seinem Herrn bei dessen beruflichem Einsatz.
Sie gingen eine Weile durch das am dichtesten bevölkerte Viertel der Stadt, wo das Gedränge am größten war, bogen dann in eine enge Gasse, die schmutziger und elender war als alle anderen, durch die sie bisher gekommen waren, und hielten an, um sich nach dem Haus umzusehen, dem ihre Suche galt. Die Gebäude ragten zu beiden Seiten groß und hoch empor, waren aber sehr alt und wurden von Leuten der ärmsten Schicht bewohnt, wie die heruntergekommenen Fassaden zur Genüge verrieten, auch ohne dass es des gleichzeitigen Zeugnisses, das von dem verwahrlosten Aussehen der wenigen Männer und Frauen abgelegt wurde, die mit untergeschlagenen Armen und gebeugten Leibern vereinzelt umherschlichen, bedurft hätte. Viele der Häuser besaßen Ladenfronten, die jedoch fest verrammelt waren und verfielen, denn nur die oberen Stockwerke wurden bewohnt. Einige durch Alter und Verfall baufällig gewordene Gebäude wurden durch riesige hölzerne Balken, die gegen die Wände gestützt und fest auf der Straße verankert waren, am Einsturz gehindert. Doch selbst diese erbärmlichen Bruchbuden schienen von einigen unbehausten armen Teufeln als nächtliches Lager auserkoren worden zu sein, denn viele der groben Holzplanken, die Türen und Fenster ersetzten, waren herausgerissen worden, um eine Öffnung zu schaffen, groß genug, um einem menschlichen Körper Durchlass zu gewähren. In der Gosse stand das dreckige Abwasser. Sogar die Ratten, die hier und da verwesend im Moder lagen, sahen vor Hunger ganz elend aus.
Weder Klingelzug noch Klopfer befanden sich an der offenen Tür, vor der Oliver und sein Lehrherr stehen blieben, deshalb ertastete sich der Leichenbestatter vorsichtig den Weg durch den dunklen Gang, befahl Oliver, sich dicht hinter ihm zu halten und keine Angst zu haben, und stieg zum ersten Treppenabsatz empor, wo sie auf eine Tür stießen, an die Sowerberry mit seinen Knöcheln klopfte.
Ein junges Mädchen von dreizehn oder vierzehn Jahren öffnete. Mit einem Blick ins Innere des Zimmers sah der Leichenbestatter genug, um zu wissen, dass es sich um die Behausung handelte, zu der er bestellt worden war. Er trat ein, Oliver folgte ihm.
Im Zimmer brannte kein Feuer, aber ein Mann kauerte wie entrückt am leeren Ofen. Auch eine alte Frau hatte sich einen Hocker an den kalten Herd gezogen und saß neben ihm. In der anderen Ecke drängten sich ein paar zerlumpte Kinder, und in einer kleinen Nische gegenüber der Tür lag etwas unter einer alten Decke auf dem Boden. Oliver erschauderte, als sein Blick auf diese Stelle fiel, und er drückte sich unwillkürlich enger an seinen Herrn, denn obwohl die Decke darüber lag, spürte der Junge, dass es ein Leichnam war.
Der Mann hatte ein hageres, sehr bleiches Gesicht, Haare und Bart waren grau, die Augen blutunterlaufen. Das Gesicht der alten Frau war voller Runzeln, die beiden ihr noch verbliebenen Zähne standen über die Unterlippe vor, ihre Augen waren hell und stechend. Oliver fürchtete sich, sie oder den Mann anzuschauen. Sie schienen so sehr den Ratten zu gleichen, die er draußen gesehen hatte.
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