Zum Glück lebe ich heute und nicht damals, dachte er.
Lange hatte er die fünf eng beschriebenen Seiten nicht mehr in der Hand gehabt. Er konnte die Handschrift nur schwer entziffern. Das Papier war zwar fest, aber vergilbt und fleckig, die Zeilen waren mit Tinte in einer altertümlichen Schrift verfasst. Die Buchstaben waren reichlich verschnörkelt. Es sah aus, als habe der Autor seinen Sätzen dadurch zusätzliche Bedeutung verleihen wollen.
„Unbestellte Kunst-Mahlerey.“ Arnold grinste.
Als Lukas Arnolds Großmutter gestorben war, hatte ihm der Nachlassverwalter, ein Karlsruher Notar, die Blätter überreicht. Sie befanden sich in einer Mappe mit dem Testament und ein paar anderen Dokumenten. Es handelte sich offensichtlich um eine Art Tagebuch eines Vorfahren namens Johann Christoph Arnold, das dieser zur Zeit der Stadtgründung geführt hatte. Es gab allerdings keine weiteren Blätter. Entweder hatte sein Vorfahr das Tagebuchschreiben schnell wieder aufgegeben oder der Rest war im Lauf der Jahrhunderte verloren gegangen.
Arnold hatte dem nie größere Aufmerksamkeit geschenkt. Sicher, das Fragment klang interessant, aber was sollte er damit anfangen?
Sein Großvater hatte nur abgewunken, wann immer das Gespräch auf seine Ahnen oder die Stadtgeschichte kam: „Lasst doch die alten Sachen ruhen, das interessiert doch niemanden.“ Sätze, wie man sie auch regelmäßig von alten Leuten über die Nazizeit zu hören bekam – sofern sie nicht zu den Opfern gehört hatten. Seine Großmutter, die ganz gerne über die Familie und deren Verbundenheit mit Karlsruhe sprach, hatte nach Opas Verdikt immer geschwiegen.
Seine Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als er anderthalb Jahre alt war. Geschwister hatte Lukas Arnold keine. Seine Großeltern hatten ihn nach dem Tod der Eltern zu sich genommen und aufgezogen.
Das alles war schon so lange her. Arnold fühlte keine Leerstelle in sich, was seine Eltern betraf. Er hatte keinerlei Erinnerungen an sie. Seine Großeltern waren eben seine Eltern gewesen.
Die eine oder andere Freundin hatte ihm mal zu einer Therapie geraten, um das alles „aufzuarbeiten“, aber das hatte er dankend abgelehnt. Warum ein Trauma aufbauen, wenn er gar keines verspürte?
Ja ja, Verdrängung und so. Eine ganze gutverdienende Armee von Therapeuten verdiente daran. Aber verglichen mit Kindern, die in indischen Großstädten auf der Straße aufwuchsen, waren das Luxusprobleme. Bullshit!
Nur seine Großmutter vermisste er.
In der Grundschule war Arnold ein Überflieger gewesen. Als er dachte, im Gymnasium ginge das gerade so weiter, täuschte er sich und rutschte schnell ab. Dass gute Noten gelegentlich durchaus mit intensivem Lernen verbunden waren, war ihm zwar klar, er lernte es trotzdem nicht mehr. Das, so fand er bis heute, hatte auch an seinen Lehrern gelegen, von denen einige pathologische Fälle gewesen waren.
Vor allem die Lateinlehrer – er war auf ein humanistisches Gymnasium gegangen – hatten sich dabei hervorgetan. Einer hatte einem Schüler einmal vor Wut einen offenen Füller in den Mund gestoßen. Ein anderer drohte immer, wenn er wütend war: „Ich spring gleich aus dem Fenster.“ Obwohl sich ihr Unterrichtsraum damals im ersten Stock befand, hatte er das zum Leidwesen der Klasse nie in die Tat umgesetzt.
Immerhin, mit einem seiner Mathematiklehrer hatte Arnold sogar einmal richtig Geld verdient. Irgendeine Illustrierte, die seine Großmutter las, forderte ihre Leser auf, die „besten“ Lehrersprüche einzuschicken. Fünfundzwanzig Mark sollte es pro abgedrucktem Spruch geben. Von seinem Mathelehrer hatte man gleich zwei genommen. „Wachet auf, Ihr Kinderlein! Das steht im Gesangbuch.“, hieß der eine. Der andere war ein unvergesslicher Dialog mit Harald Grauberger, der dann nach der neunten Klasse auf die Realschule wechseln musste: „Das ist ja ganz schlecht, was du da bietest! Was hast du letztes Jahr in Mathematik gehabt?“ – „Eine Fünf.“ – „Und du bist nicht sitzen geblieben.“ – Kopfschütteln. – „Nun, das wird sich dieses Jahr ändern.“
Der Lehrer war schon alt. Man hatte ihn wegen Fachkräftemangels aus dem Ruhestand zurückgeholt. Er sah so schlecht, dass er ein an der Rückwand des Klassenzimmers hängendes Handtuch mit einem Schüler in der letzten Reihe verwechselt hatte. „Meyer, setz dich endlich hin!“, hatte er gerufen, worauf der empört erwidert hatte: „Aber ich sitze doch.“ Er trug mit Vorliebe hellbraune Rollkragenpullover und schwitzte viel, so dass sich unter den Achseln auf dem hellen Stoff tellergroße Schweißflecken abzeichneten, die auch entsprechend rochen, wie die Schüler aus der ersten Reihe berichteten.
Na ja, Schule.
Ein Jahr, nachdem sein Großvater gestorben war, kurz vor seinem 21. Geburtstag, verließ Arnold Karlsruhe und zog nach Berlin. Es waren die 90er-Jahre, er ging gleich in den Osten, wo immer noch ein großes Stück vom wilden Nachwende-Berlin übrig war, wenn es auch von allen Seiten fleißig weggeknabbert wurde. Er zog in eine WG ein, die eine Fabriketage in Friedrichshain bewohnte, und stürzte sich ins Nachtleben. Sein Studium der Politik und Geschichte, für das er sich an der Freien Universität eingeschrieben hatte, vernachlässigte er schon nach einem Semester. Stattdessen fing er an, bei einem Kreuzberger Trödler auszuhelfen, lernte, wie man Möbel restauriert, und gab das Studium kurz vor dem Vordiplom auf.
Nur seine Großmutter bedauerte all das, zuallererst seinen Wegzug. „Wann kommst du zurück?“, war immer ihre erste und letzte Frage, wenn er sie besuchte. So waren diese Heimatbesuche bei ihm mit einem schlechten Gewissen verbunden. Als sie starb, war seine letzte nahe Verwandte tot. Sie hinterließ ihm eine kleines Mehrfamilienhaus in der Karlsruher Südstadt und eine große Bibliothek.
Vor mehr als zehn Jahren hatte Arnold sich für zweihundert Euro im Monat ein kleines Ladenlokal gemietet im sogenannten Problemkiez Nordneukölln, der sich inzwischen zum weltweit begehrten Szenebezirk „Kreuzkölln“ gemausert hatte. Seine Miete war inzwischen ums Doppelte gestiegen, was immer noch ein Drittel von dem war, was man heute bei einer Neuvermietung für solche Räume bezahlen musste.
Die Leute waren verrückt. Sie bezahlten beinahe jeden Preis, um eine Wohnung in seinem Kiez zu bekommen. Die Mietpreise lagen mittlerweile über denen in Prenzlauer Berg. Ein Wohnungseigentümer hatte gegenüber einer örtlichen Tageszeitung geäußert, dass er von seinen Miteigentümern im Haus gebeten worden sei, bei einer Neuvermietung die Miete doch bitte um mindestens zwei Euro pro Quadratmeter anzuheben, damit er nicht zu sehr unter den von ihnen aufgerufenen Preisen bliebe. Dabei sei das Haus nicht einmal saniert.
Ja, doch, das Viertel hatte sich gemacht. Sogar die Scheißhaufen der Hunde auf dem Gehsteig, die früher wie an einer Perlenkette aufgereiht entlang der Häuserwände und des Bordsteins gelegen hatten und zwischen denen nur ein mehr oder weniger schmaler Pfad zum Laufen geblieben war, schienen seltsamerweise weitgehend verschwunden. Denn Hunde gab es noch genauso viele. Nur waren es jetzt nicht mehr die Kampfhunde von stiernackigen Jogginghosenträgern, sondern schmalgliedrige Rassehunde von spanischen Hipstern mit Hüten auf dem Kopf, wie sie früher als Klopapierhüllen auf der Ablage im Fond deutscher Mittelklasseautos lagen.
Arnold restaurierte weiter antike Möbel. Die meisten verkaufte er über eBay, immer sorgsam bedacht, unter der Umsatzgrenze für Kleinunternehmer zu bleiben, um die Umsatzsteuer zu umgehen.
Im Frühjahr hatte sich seine Freundin Christine nach fünfjähriger Beziehung von ihm getrennt. Christine hatte er auf einer Party kennengelernt. Sie war Soziologin, arbeitete in einem Wissenschaftsbüro, das sie nach ihrem Studio aus Mangel an Jobalternativen mitbegründet hatte und das sich auf Migrantinnen spezialisiert hatte und mittlerweile recht erfolgreich Forschungsaufträge einwarb. Sie war zwei Jahre jünger als er. Während sie eine Art prekäre Karriere machte, hatte Arnold sich in seinem Dasein eingerichtet. Die Tage vergingen ruhig und gleichmäßig. Christine warf ihm eine gewisse Antriebslosigkeit vor, bedingt durch seine materielle Sicherheit, die, wie sie fand, gar nicht gut für ihn war. Er brauche dadurch nämlich nicht erwachsen zu werden.
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