Und so führte uns das Schicksal zum Altamont Speedway, gelegen in dem hügeligen Gelände südöstlich von San Francisco, wo wir mit der Creme der West-Coast-Bands auftraten – und plötzlich ganz tief in der Scheiße steckten.
Wie auch die anderen Bands stürzte über die Rolling Stones eine wahre Welle der sinnlosen und brutalen Gewalt herein, denn Tausende von Fans, die wegen der Musik und der Riesenparty gekommen waren, wurden von einer kleinen Gruppe Möchtegern-Hells-Angels ohne erkennbaren Grund angegriffen.
Die ursprüngliche Intention und der gleichzeitige Traum jedes Beatniks – ein gemeinsamer Auftritt der Stones und der Grateful Dead – verwandelte sich in einem Albtraum, der einige Menschen das Leben kostete und vielen anderen einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügte. Darüber hinaus entlarvte sich die der West Coast zugeschriebene liebenswerte und hippieske Atmosphäre als Illusion und offensichtliche Absurdität einer bereits vergangenen Ära.
Das Altamont-Konzert wurde weder von den Rolling Stones noch von mir, ihrem Tourmanager, organisiert, sondern von einem losen Zusammenschluss engagierter, jedoch letztendlich verantwortungsloser Menschen aus der Community San Franciscos.
Als der Auftritt im tobenden Chaos endete, wurde den Stones zu Unrecht die Schuld daran gegeben. Ich muss seit über 40 Jahren mit dieser Schmach leben.
Es ist höchste Zeit, alle Missverständnisse aus dem Weg zu räumen und mich zu Wort zu melden. Die 300.000 Zuschauer in Altamont können sich auf einige Überraschungen gefasst machen, denn die tatsächlichen Ereignisse unterschieden sich stark von dem, was sie später aus der US-Presse erfuhren. Doch meine Geschichte endet nicht mit Altamont. Ich beschreibe in diesem Buch mein Leben als Tourmanager von zwei der größten Bands der Welt – der Rolling Stones und der Grateful Dead.
1. Kindheitstage
Ganz im Gegensatz zu Michael Philip Jagger, der in einem ganz normalen Krankenhaus geboren wurde, erblickte ich das Licht der Welt in einem prunkvollen Anwesen. Mick mag jetzt zwar einige Nobelvillen besitzen, aber nein, er wurde in keiner geboren!
Zur Welt kam ich 1943 in Hatfield House, in einem nördlichen Randbezirk Londons in der Grafschaft Hertfordshire. Das Gebäude wurde 1608 von Robert Cecil, dem ersten Earl of Salisbury, gebaut und befand sich seit diesen Tagen ununterbrochen im Besitz seiner aristokratischen Nachfahren. Allerdings fließt in meinen Adern kein blaues Blut!
Meine Ankunft in solch hochherrschaftlichen Gemäuern hatte einen einfachen Grund. Die Regierung hatte Hatfield House während des Zweiten Weltkriegs beschlagnahmt und in eine provisorische Entbindungsklinik umgewandelt, denn dieser Teil Großbritanniens interessierte die deutsche Luftwaffe kaum.
Ich wurde in das heillose Durcheinander einer Welt der zerstörten Häuser, zerrütteten Leben, Millionen von Toten und des allgemeinen Tumults geboren. Mick beschrieb die Situation in dem Song „Jumpin’ Jack Flash“ als „crossfire hurricane“. Als Reaktion auf das überall tosende Chaos herrschte eine sexuelle Freizügigkeit, die zu einem steilen Anstieg der Geburtenrate führte, während gleichzeitig viele Menschen ihr Leben lassen mussten. Es lässt sich mit einer Lotterie des Wahnsinns vergleichen, bei der ein Soldat und ein Baby ungefähr dieselben Überlebenschancen hatten.
Erst mit 15 Jahren erfuhr ich, dass meine Mutter Irländerin war und aus einer Roma-Familie aus Cork stammte. Sie hatte als Schreibkraft für die Regierung gearbeitet, während mein jüdischer Vater seinen Militärdienst bei der Royal Air Force als Mathematiker ableistete. Meine Eltern verschwanden im industrialisierten Gemetzel des Krieges. Ein Mal Pech gehabt – und schon war man raus! Durch meine Adern floss also irisches und jüdisches ebenso wie Roma-Blut.
Die Blutlinien dieser drei verfolgten ethnischen und religiösen Gruppen vermischten sich in mir und bildeten die perfekte Kombination für eine Karriere in der Unterhaltungsindustrie. Allerdings konnte ich in der Kindheit noch nichts davon ahnen. Mein kulturelles Erbe und die ungewöhnliche Abstammung waren schon immer eine Quelle der Zufriedenheit und des Stolzes für mich gewesen, denn seit frühster Kindheit wusste ich – egal, wo denn nun meine Wurzeln lagen: Ich war auf gar keinen Fall Brite!
In den Irrungen und Wirrungen der Pubertät klärte mich ein Freund der Familie über meine frühste Jugend auf. Mutter hatte alles unternommen, um das Beste aus ihrer schwierigen Lage zu machen. Sie war ein junges, strenggläubiges katholisches Mädchen, hatte ein uneheliches Kind zur Welt gebracht und lebte weit von der Familie entfernt, die mich vermutlich mit Abscheu betrachtet und ihre Tochter verstoßen hätte. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte sie den Eltern in Irland nichts von der Schwangerschaft oder der Geburt verraten.
Meine Mutter versuchte mich in London allein und im Geheimen groß zu ziehen. Doch sie konnte den gleichzeitigen Druck eines wütenden Krieges und des Überlebenskampfes mit nur wenig Geld und einem kleinen Kind nicht durchhalten. Unser Freund deutete an, dass sie mich selbstlos und mit schwerem Herzen zur Adoption freigab, um mir eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Ihr Liebhaber, also mein Vater, hatte sie sitzenlassen und war während eines Einsatzes gefallen.
Ich habe die Entscheidung meiner Mutter stets respektiert. Obwohl es mich heute noch schmerzt, unternahm ich nie den Versuch, sie aufzuspüren und zu ihr in Kontakt zu treten. Ich hoffe innigst, dass sie eine bessere Zukunft erlebt hat als viele der Iren, die in London leben. Ich kenne ihren vollständigen Namen, weiß aber nicht, ob sich noch lebt oder schon verstorben ist. Falls sie noch lebt, müsste sie mittlerweile schon über 80 sein. Im Grunde genommen gab sie viel für mich auf – Gott segne sie.
Man verfrachtete mich nach Swansea in Wales, wo ich in einem katholischen Waisenhaus landete, doch schon mit drei Jahren adoptiert wurde. Als ich herausfand, dass mein Geburtsname Brendan Lyons lautete und ich von Iren abstammte, war ich mehr als dankbar – zum Glück war ich kein Brite und hieß auch nicht Cyril!
Meine erste Erinnerung: Eine Nonne trug mich die Treppen des von Bomben schwer beschädigten Bahnhofs Marylebone hinunter und übergab mich meinen Adoptiveltern Ernie und Dora Cutler. Ich saß auf der Rückbank eines geliehenen Autos, und sie erzählten, dass sie für mich den Namen Sam ausgewählt hatten.
Während der ganzen Fahrt heulte ich Rotz und Wasser, wie mir meine Adoptivmutter später erzählte. Zu Hause angekommen, setzte mich mein Vater auf den Küchentisch, damit mich eine Gruppe seiner Freunde bestaunen konnte. Mit seiner lauten Stimme übertönte er die Gesprächsfetzen und frohlockte: „Hier ist einer, den wir vor den Katholiken gerettet haben!“
Meine neue Familie zog mich in Woodford auf, dem Wahlkreis von Winston Churchill, nahe dem Epizentrum der brutalen Bombardierung, mit der die Deutschen das Londoner East End zerstörten. Dora und Ernie hatten erlebt, wie der Albtraum des Kriegs eine einstmals aufblühende Gemeinde auseinanderriss, und wandten sich seitdem gegen jegliche Form kriegerischer Auseinandersetzungen. Meine Adoptivmutter nannte Churchill bei der ersten Begegnung einen „versoffenen alten Kriegstreiber“ und durfte von da an nicht mehr sein Wahlkampfbüro betreten.
Meine Familie verachtete Churchill und verwandelte unser Haus in die Wahlkampfzentrale der Kommunistischen Partei, die beim nächsten Urnengang gegen ihn antrat. Na ja, die Kommunisten verloren haushoch. Durch ihre politische Einstellung machten sich meine Eltern nicht sehr beliebt, besonders nicht beim Hauseigentümer, der sich benahm wie Attila, der Hunnenkönig.
Von frühster Kindheit an erlebte ich Erwachsene als Dauerleser, die ihr Buch auch nicht zum Essen weglegten. Im Haus meiner Eltern standen neben vielen anderen Büchern die gesammelten Werke von Marx und Engels, Lenin, Stalin und Mao, praktisch jeder Schinken aus dem linken Spektrum, der in einer Club-Edition erschienen war. Allerdings besaßen wir weder Trotzki noch die Bibel.
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