Diese Überlegungen machen deutlich, dass sich die Marktabgrenzung in der digitalen Ökonomie, die durch zwei- oder mehrseitige Plattformen gekennzeichnet ist, oft als deutlich komplexer erweist als in herkömmlichen Industrien. Daher können Marktanteile nur mit einem erheblichen Maß an Unsicherheit gemessen werden. Hinzu kommt, dass in Märkten mit zweiseitigen Plattformen und hinreichend hohen indirekten Netzwerkeffekten Marktanteile sowie Konzentrationsmaße und Veränderungen in der Konzentration für die Feststellung von Marktmacht und für die Prognose der wettbewerblichen Effekte einer Fusion nicht sehr hilfreich sind.
Ein anderer Aspekt der digitalen Ökonomie, der auch für die Fusionskontrolle von wesentlicher Bedeutung ist, betrifft die Beziehung zwischen Konzentration und Wohlfahrt in zwei- oder mehrseitigen Märkten. Wie man von Märkten mit direkten Netzwerkeffekten weiß – wie z.B. bei Telefonen, bei denen der Nutzen eines Geräts umso größer ist, je mehr Akteure ebenfalls an das Telefonnetz angeschlossen sind, weil die Kommunikationsmöglichkeiten zunehmen – hat die Größe des Netzwerks einen positiven Effekt auf die Konsumentenwohlfahrt. Daher kann eine Zunahme der Konzentration, die zu einer Preiserhöhung führt, sehr wohl mit einer Erhöhung der Konsumentenrente einhergehen, da das Produkt wertvoller wird und die Konsumenten bereit sind, einen höheren Preis dafür zu zahlen. Wenn die Zahlungsbereitschaft der Konsumenten stärker steigt als der Preis, dann nimmt die Konsumentenwohlfahrt zu.
In zwei- oder mehrseitigen Märkten ist die Lage noch komplizierter, da zwischen den Gruppen, die mittels der Plattform interagieren, indirekte Netzeffekte bestehen. So könnte ein Zusammenschluss zwischen zwei Plattformen zu einer erheblichen Änderung in der Preisstruktur führen und es könnte der Fall eintreten, dass der Preis auf einer Marktseite steigt, während er auf der anderen Seite fällt. Auch in zweiseitigen Märkten können die Netzwerkeffekte hinreichend stark sein, sodass selbst dann die Konsumentenwohlfahrt zunimmt, wenn der Gesamtpreis steigt. Theoretische Analysen von Fusionen in zweiseitigen Märkten haben gezeigt, dass Zusammenschlüsse die Wohlfahrt erhöhen können, vorausgesetzt die indirekten Netzwerkeffekte sind hinreichend stark.124 Andernfalls gilt das übliche Ergebnis einer traditionellen Fusionsanalyse und der zu Preissteigerungen führende Zusammenschluss reduziert die Wohlfahrt.
So stellt sich auch die Frage, wie Fusionen auf solchen Märkten zu bewerten sind und ob möglicherweise Ergänzungen oder Änderungen des Fusionskontrollrechts erforderlich werden, um zum einen die Übernahme potentieller Wettbewerber oder auch die Bedeutung der von den Unternehmen gesammelten Datenbestände besser berücksichtigen zu können. Gerade im Kontext der Übernahmen von kleineren Start-up-Unternehmen, die in ihrer Anfangsphase zumeist noch keine signifikanten Umsätze erzielen, sich aber binnen kurzer Zeit zu starken Konkurrenten der etablierten Plattform entwickeln könnten, können Kriterien, die sich am Transaktionswert orientieren, sinnvoller sein als umsatzbasierte Eingriffsschwellen. Wenn im Zuge eines Zusammenschlusses unterschiedliche Datenbestände zusammengeführt und rekombiniert werden, dann lassen sich daraus zusätzliche Informationen gewinnen, die in den einzelnen Datenbeständen nicht enthalten sind. Hierdurch könnten erhebliche Marktzutrittsschranken entstehen, weil potentiellen Wettbewerbern nicht die gleichen Daten zur Verfügung stehen, die sie für einen Markteintritt benötigen. Der gerade in der digitalen Ökonomie aufgrund der angesprochenen Konzentrationstendenzen entscheidende Wettbewerb um den Markt wäre dadurch erheblich geschwächt. Auch ist die Frage zu stellen, ob es sich bei diesen Datenbeständen um eine so genannte „wesentliche Einrichtung“ (essential facility) handelt, zu der gegen ein angemessenes Entgelt Zugang gewährt werden muss. Dieses Problem könnte auch den Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung betreffen.
Kollusives Verhalten und Kartellbildung in zwei- oder mehrseitigen Märkten können jedoch als weniger wahrscheinlich eingeschätzt werden, als dies bei herkömmlichen Märkten der Fall ist, da hier eine Koordination hinsichtlich zwei oder sogar mehrerer Marktseiten erzielt werden muss. Wenn eine Koordination nur auf einer Marktseite stattfindet, dann gibt es eine Tendenz, die Gewinne auf dieser Seite durch einen intensiveren Wettbewerb auf der anderen Marktseite „wegzukonkurrieren“. Daher wären zusätzliche Vereinbarungen und Verhaltenskontrollen zwischen den Unternehmen notwendig, um ein gewinnbringendes koordiniertes Verhalten zu ermöglichen.
Insgesamt zeigt sich, dass in der digitalen Ökonomie vor allem aufgrund der indirekten Netzwerkeffekte, der datenbasierten Geschäftsmodelle und des Preissetzungsverhaltens eine Reihe von Problemen bei der Wettbewerbsanalyse wie z.B. der Abgrenzung des relevanten Marktes, der Bestimmung der Marktanteile, der Auswirkungen eines Zusammenschlusses auf den Wettbewerb und die Wohlfahrt auftreten können. Im Folgenden werden diese Probleme in den jeweiligen Abschnitten des Buches näher untersucht.
107Für einen Überblick über die Entwicklung der digitalen Ökonomie insbesondere im Kontext des Wettbewerbsrechts vgl. Monopolkommission (2015) und Bundeskartellamt (2015). 108Zum Konzept des natürlichen Monopols siehe Sharkey (1983). 109Bei Mehrproduktmonopolen ist die Definition etwas komplexer. Hier muss eine entsprechende Bedingung auch für alle denkbaren Kombinationen von Gütern erfüllt sein. 110Es gibt einen konzeptionellen Unterschied zwischen natürlichen Monopolen und wesentlichen Einrichtungen: Natürliche Monopole sind definiert bezüglich der Kostenstruktur, d.h. die Kostenfunktion muss die Eigenschaft der Subadditivität aufweisen. Wesentliche Einrichtungen hingegen sind charakterisiert entweder durch die faktische oder die ökonomische Unmöglichkeit der technischen Reproduzierbarkeit. Zum Konzept der wesentlichen Einrichtung siehe Lipsky/Sidak (1999) oder Werden (1987). 111Zu Monopolisierungstendenzen auf digitalen Märkten vgl. Haucap/Heimeshoff (2014). 112Die im Folgenden beschriebenen Netzwerkeffekte können im Einzelfall auch im Zusammenwirken mit anderen Faktoren, etwa mit Kostenstrukturen der oben beschriebenen Arten (etwa subadditiven Kostenfunktionen), eine hohe Marktkonzentration begünstigen und das Entstehen von Marktergebnissen wie im Monopol erklären. Vgl. Monopolkommission (2015), Tz. 41. 113Zu den ökonomischen Grundlagen der Sharing-Economy siehe Peitz/Schwalbe (2016). 114Eine große Zahl von Suchanfragen ermöglicht es der Plattform auch, ihre zur Suche verwendeten Algorithmen zu verbessern, sodass die Nutzer präzisere Antworten auf ihre Anfragen erhalten. 115Zur Ökonomik von Suchmaschinen vgl. Argenton/Prüfer (2012) sowie Haucap/Kehder (2013). 116Zur Einführung in die Theorie der zweiseitigen Märkte siehe Rochet/Tirole (2003), (2006). 117Zur Preissetzung in zweiseitigen Märkten vgl. Armstrong (2008), Rochet/Tirole (2003), (2006). 118Zur Preisgestaltung bei Werbeanzeigen vgl. Ratliff/Rubinfeld (2010). 119In diesem Sinne noch OLG Düsseldorf 9.1.2015 – VI-Kart 1/15 (V) Rdnr. 43. Vgl. aber jetzt § 18 Abs. 2a GWB: „Der Annahme eines Marktes steht nicht entgegen, dass eine Leistung unentgeltlich erbracht wird.“ Die Europäische Kommission ist schon seit längerem (auch) bei Preisen von null vom Bestehen eines Marktes ausgegangen, vgl. bspw. Komm. v. 7.10.2011 (COMP/M.6281) – Microsoft/Skype, Rdnr. 78ff. Zur Bestimmung der Marktanteile bei unentgeltlichen Leistungen unten S. 223f. 120Zum Problem von Märkten mit Null-Preisen vgl. Newman (2014) oder Franz/Podszun (2015). 121Vgl. Wright (2004). 122Vgl. ibidem. 123Zur Frage des Multi-Homing und des Wettbewerbs zwischen Plattformen vgl. Evans (2003) sowie Evans/Schmalensee (2007). 124Siehe Evans/Noel (2008).
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