Unter die Oberfläche zu gehen kann ich nur Praktikern empfehlen, die eine Menge Erfahrung im Umgang mit halb vergessenen Gottheiten haben, und außerdem die Weisheit, sich mit dem auseinanderzusetzen, was erwacht, sowie das Taktgefühl, das ruhen zu lassen, was in Ruhe gelassen werden will. Du könntest die Himmelsrichtungen Gournays und ihre Bedeutung den sechs Seiten eines Würfels zuordnen und ein darauf beruhendes neues System der Wahrsagung erfinden. Wenn vier Augen für die Erde stehen, drei für den Himmel und sechs für das Tor, könntest Du sogar ein numerologisches System entwickeln. Kein altkeltisches, sondern ein neues, das offen ist für neue Interpretationen. Versuche, jede Richtung durch ein paar Substantive, Adjektive und Verben zu definieren. Im Verlauf dieses Prozesses wird die ganze Kosmologie in Deinem Geist sehr viel lebendiger werden. Es handelt sich nicht um einen Akt der Rekonstruktion, sondern der kreativen Re-Interpretation. In diesem Sinn war Gournay nicht nur ein Brennpunkt für viele religiöse Weltanschauungen, er könnte es wieder werden, wenn auch in einer neuen Form, die Deiner Zeit und ihren Überzeugungen angemessen ist.
Das Ende der streng genommen rein gallischen Periode kam 125 vor unserer Zeit, als die sakrale Schanze aus unbekannten Gründen systematisch abgebaut wurde. Die Opfergrube und die Gräben wurden aufgefüllt, die Palisade und die Gebäude wurden niedergebrannt, und der ganze Ort wurde sorgfältig gereinigt. Dann folgte eine Zeit der Inaktivität. Während des ersten Jahrhunderts unserer Zeit und unter römischer Herrschaft wurde ein neues Tempelgebäude genau an dem Ort errichtet, wo sich früher die Opfergrube befunden hatte (Phase 5). Statt einer Grube enthielt der „Tempel” einen Ort für Brandopfer. Um das Jahr 100 herum wurde der Ort erneut zerstört, im folgenden Jahrhundert aber wieder aufgebaut (Phase 6). Er diente bis ins 4. Jahrhundert hinein als gallorömischer Tempel, was zeigt, dass sich zwar Riten und Religion änderten, die heiligen Orte aber die gleichen blieben.
Die Dinge werden noch extremer, wenn wir einen kurzen Blick auf die sakrale Anlage von Ribemont-sur-Ancre werfen, etwa 50 km nördlich von Gournay. Mitte der 90´er Jahre war nur ein Drittel von Ribemont freigelegt, aber was man dann fand, macht diesen Ort zu einem der wertvollsten und makabersten Kultplätze, die je gefunden wurden. Anders als Gournay ist Ribemont nicht sehr typisch für gallische Kultanlagen. Manche Experten halten sie nicht einmal für einen Tempel, sondern eine Art Kriegerdenkmal, mit dem eine Anzahl von Siegen des späten 3. Jahrhunderts vor unserer Zeit gefeiert wurde. Da Ribemont eine komplexe Geschichte hat und bis in die Zeiten der römischen Besatzung hinein in Gebrauch war, möchte ich mir nicht die Mühe machen, all seine Entwicklungsschritte aufzuzählen. Es genügt zu sagen, dass die Viereckschanze von Ribemont von einer Palisade umgeben war, die 3 m hoch aufragte und dass die offenen Gräben, die für Gournay so charakteristisch waren, hier fehlen. Allerdings ist Ribemont vielleicht der einzige Kultplatz, wo sich Teile der heiligen Gebäude außerhalb der Schanze befanden. Zwei dieser Gebäude wurden bisher erforscht. Eins ist das Portal über dem Eingang, wo die einzigen Schädel des Ortes aufbewahrt wurden. Das andere ist ein hohes Gebäude außerhalb der Umfriedung. Es scheint sich um eine überdachte Plattform gehandelt zu haben, die in einiger Höhe errichtet worden war, wo eine große Anzahl unheimlicher Trophäen aufbewahrt wurde. Und von hier an wird es extrem kompliziert.
Ich kann leider nicht die gesamten Hintergründe aufzählen, die zu den genannten Schlussfolgerungen führen; daher hoffe ich, dass der interessierte Leser sich die Mühe machen wird, etwas zu dem Thema nachzulesen (s. Brunaux, 1995). Wo das Gebäude stand, haben die Archäologen mehr als 10.000 Menschenknochen und mehrere hundert Waffen auf einer Fläche von nur 60 Quadratmetern entdeckt. Diese Gegenstände waren nicht achtlos verstreut. Die meisten Knochen befanden sich an ihrem anatomisch richtigen Ort, die Schwerter steckten in Scheiden, die Scheiden waren an Gürteln befestigt, und so weiter. Allerdings hatte man sich definitiv an den Leichen zu schaffen gemacht. So hatte zum Beispiel keine von ihnen einen Kopf. Und, was noch seltsamer war, jeder Körper war an der Taille durchgeschnitten worden. Die Priesterschaft von Ribemont hatte die Leichen sorgfältig so aufgestellt, dass jeder Oberkörper auf einem anderen Unterkörper als dem seinen ruhte! Es ergibt sich ein reichlich seltsames Bild. Wir haben hier diese mehrere Meter hohe Plattform am äußersten Ende der Schanze, direkt an der Wand. Auf ihr befindet sich eine Anzahl verstümmelter Leichen, die auf sehr wenig Raum aufrecht stehen oder sitzen. Sie tragen Waffen, Schilde und Rüstungen, aber sie haben keine Köpfe, und ihre Körper bestehen aus zwei verschiedenen Kadaverteilen. Die Leichen verwesen, aber da sie sich hoch über dem Boden befinden, wo sie dem Luftzug ausgesetzt sind und das Dach sie vor Nässe schützt, fallen sie nicht völlig auseinander. Die Muskeln und die Weichteile verwesen, aber Sehnen und Haut mumifizieren. Während dieses Prozesses scheinen sich die Gliedmaßen auf groteske und unnatürliche Weise zu bewegen. Als aufgrund eines unbekannten Ereignisses die Plattform zusammenbrach (oder zum Einsturz gebracht wurde), fielen die mumifizierten Leichen mehrere Meter in die Tiefe, verblieben aber größtenteils in ihrem ursprünglichen Zustand. Das Ganze erinnert an eine Bemerkung Diodors, der behauptete, dass der Sieger nach dem Kampf seinem gefallenen Gegner den Kopf abschnitt und ihn an die Zügel seines Pferdes hängte. Während er heimritt, um seine blutigen Trophäen über die Tür seines Hauses zu hängen, sammelten die Diener den Rest der Leiche und die Waffen ein. Könnte es sein, dass diese Teile in derartige Tempel wanderten?
Ribemont hat aber noch mehr zu bieten als das. Auch um die Palisade herum fand man menschliche Knochen. Wieder finden wir kopflose Körper vor, die aus verschiedenen Ober- und Unterkörpern zusammengesetzt waren, und wiederum waren diese Körper vollständig mit Waffen und Rüstungen ausgestattet. Ihrem Zustand nach zu urteilen ist es wahrscheinlich, dass diese morbiden Dekorationen aufrecht an der Wand lehnten und über Jahre hinweg friedlich vor sich hin verwesten. Innerhalb der Anlage und nahe bei ihren Ecken kommt es noch knochiger. Hier finden wir winzige, offene Einfriedungen, die wie Quadrate aussehen, mit einer Seitenlänge von 2 m. Die kleinen Wälle waren komplett aus Langknochen erbaut worden, die man sorgfältig aufeinander gestapelt hatte. Etwa 2000 von ihnen (von etwa 600 Leuten) wanderten in das Nordgebäude. Die meisten von ihnen stammten von Menschen und einige auch von etwa zwei Dutzend Pferden. Daraus wurde ein kleiner Wall erbaut, der etwa 70–100 cm hoch war. Wahrscheinlich hatten diese frühen „Knochenhäuser” kein Dach. Die Knochenwände umgrenzten einfach einen kleinen, heiligen Ort, wo unbekannte Riten durchgeführt wurden. Innen war der Boden mit menschlichen Beckenknochen gepflastert. Im Zentrum befand sich eine kleine Grube von nur 25 cm Durchmesser, aber fast einen Meter tief, gefüllt mit den zermalmten, verbrannten Überresten von hunderten menschlicher Langknochen. Das Knochenhaus im Südosten enthielt ebenfalls eine Anzahl menschlicher Langknochen. Außerdem wurden Fragmente von Knochen gefunden, die verdächtig danach aussahen, als sei das Mark extrahiert worden. Kannibalismus? Oder vielleicht nur Reinigung? Denk mal darüber nach. Erwäge alle Möglichkeiten. Da die Knochen vorher bereits eine Zeit lang der Verwesung ausgesetzt waren, bevor man sie zerbrochen hatte, ist es wahrscheinlich, dass das Mark nicht mehr essbar war. Alles in allem haben die Ausgrabungen von Ribemont bisher mehr als 15,000 menschliche Knochen zu Tage gefördert. Mehrere tausend Metallobjekte kamen zum Vorschein, unter ihnen etwa 500 Lanzenspitzen. Die Ausgrabungen sind noch nicht beendet. Vielleicht erwarten uns noch viele Überraschungen. Das Ausstellen der Trophäen, Leichen und Knochen fand zu Beginn des ersten Jahrhunderts vor unserer Zeit ein Ende. Ab diesem Zeitpunkt wurde Religion in Ribemont zu einer eher symbolischen, weniger nekrophilen Angelegenheit. Der Glaubenswandel muss gründlich gewesen sein, denn als die Römer kamen, um das Land zu besetzen, fanden sie nichts vor, gegen das sie etwas einzuwenden gehabt hätten (außer den Druiden). Eine große Siedlung entstand um den Komplex herum, der Tempel wurde wieder aufgebaut, und alles war bis ins dritte Jahrhundert hinein voll funktionsfähig.
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