»Ich liebe dich!«, sagte er leise. Es klang wie eine Lüge. Beinahe, als wollte er sich selbst von seinen Worten überzeugen.
Die Erwiderung blieb Laura im Hals stecken.
»Wann ist sie gestorben?« Sie versuchte, gefasst zu klingen. Wieder legte sich dieser merkwürdige Schleier um sie. Sie hatte Mühe, Toms folgende Worte zu verstehen und den Blickkontakt zu ihm zu halten. Seine Gestalt verschwamm vor ihren Augen. Kopfschmerzen setzten ein. Nicht schon wieder! Was lief nur falsch mit ihr? Laura blinzelte und versuchte zwanghaft, die Konzentration zu wahren. Sich gegen die schwarzen Punkte zu wehren, die schon wieder vor ihren Augen tanzten. Bremsen quietschen. Der Geruch von Benzin stieg in ihre Nase.
»Sie ist nicht …« Laura konzentrierte sich, doch Toms Worte gingen unter.
Stattdessen vernahm Laura das Rauschen des Wassers der Mur. Die Regentropfen prasselten gegen die Scheibe …
»Noch nicht.«, hörte sie ihren Mann schließlich sagen.
Verstört nickte Laura. Endlich verschwand der Flashback. Etwas anderes konnten diese grauenhaften Erinnerungen und Sinneseindrücke eben doch nicht gewesen sein. Oder?
»Aber es sieht nicht gut aus«, fügte Tom hinzu und Laura hatte Mühe sich zu erinnern, worüber sie gesprochen hatten. Unter großer Anstrengung fiel es ihr wieder ein. Mia. Ihre Tochter. Worüber sonst?
»Noch nicht«, hatte Tom gesagt.
Mia lebte also noch! Erleichterung durchflutete Laura. »Ich will sie sehen.«
»Geht’s dir gut?« Was war das denn für eine bescheuerte Frage?! Sie passte doch gar nicht zu ihrem Gespräch! Irritiert sah Laura ihren Mann an. Wieder zogen sich ihre Schläfen pochend zusammen, so als würde eine Rockband gerade ein Konzert zum Besten geben. Toms Stimme klang weit entfernt. »Bist du sicher?«
Was war sie sicher? Wieso war es nur so schwer, dem Gespräch zu folgen? Hatte der Unfall vielleicht einen Hirnschaden verursacht? Warum klärte sie dann niemand darüber auf?
»Laura?«
Vermutlich ging es darum, ihre Tochter zu sehen, als bejahte Laura.
»Okay. Dann komm mit.« Tom stand auf und ging zu dem Rollstuhl, der in der Zimmerecke auf seinen Einsatz wartete. Bisher hatte Laura ihn nicht bemerkt. Bisher hatte sie keinen Gedanken an ihre Umgebung verschwendet. Nur an die weiße Farbe. Doch ansonsten … Der kleine Fernseher interessierte sie nicht. Genauso wenig wie der altmodische Schrank. Sie sah an sich herab; sie trug Krankenhausklamotten. Wann hatte man sie umgezogen? Wer hatte es getan? War sie operiert worden? War sie nicht eben noch in ziviler Kleidung gewesen? Bevor dieser Dr. Roth sie ins Land der Träume geschickt hatte?
»Wir müssen aufpassen, dass Dr. Roth nicht wieder kommt«, murmelte sie leise, doch Tom antwortete nicht. Entweder hatte er sie nicht gehört oder er ignorierte sie. Laura setzte sich auf, bereit das Bett zu verlassen. Noch immer spürte sie keine Schmerzen. Warum nicht? Sie war doch verletzt. Im Bauchraum. Sie erinnerte sich an das Blut an ihrer Schläfe. Der Ast, der beim Wagenfester hereinragte. Die Bilder des Unfalls zogen an ihrem inneren Auge vorbei. Wieder schmeckte sie Blut. Rasch versuchte sie, die Erinnerungen zu verdrängen und fragte stattdessen geistesabwesend: »Was ist passiert?«
»Ein Wagen hat uns frontal gerammt.« Die Antwort klang wie auswendig gelernt. Fast gelangweilt.
»Was ist mit dem anderen Fahrer?« Sie musterte Tom eindringlich, der jedoch lieber seine Schuhe betrachtete.
»Der ist weg. Fahrerflucht.« Ihm schien das Thema unangenehm zu sein. Typisch Tom! Er hasste es, über Dinge zu reden, die ihm zusetzten. »Lass uns doch ein Stück spazieren gehen!« Erwartungsvoll sah er sie an und erst verspätet bemerkte Laura den Arm, den er ihr zur Stütze hinhielt. Alles in ihr sträubte sich dagegen, von ihm gestützt zu werden, wie eine alte gebrechliche Frau.
»Wird die Polizei ihn finden? Den Fahrer, meine ich.« Es war ihr egal, dass Tom das Thema meiden wollte.
Er holte tief Luft, dann seufzte er. »Keine Ahnung.«
»Wie schlimm sind meine Verletzungen?«
Er sah sie an. »Du hattest eine Gehirnerschütterung. Mehrere Prellungen. Ein Schütteltrauma.« Er zählte weiterhin irgendwelche Dinge auf, doch Laura hörte ihm nicht mehr zu. Sie war bei einem Wort hängen geblieben: Hattest. Vergangenheit. Warum? Der Unfall war doch erst wenige Tage her, oder?
Ein Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Ein junger Arzt betrat das Zimmer. Sofort erkannte Laura ihn. Er war jung, Mitte dreißig, und lächelte sie freundlich an.
»Frau Weiß! Wie geht es Ihnen?« Dr. Roth strahlte, als wäre nichts gewesen. Als hätte er sie nicht einfach niedergespritzt und sie daran gehindert, ihre Tochter zu sehen.
Feindselig starrte Laura ihn nieder und fuhr ihn stattdessen bissig an. »Ich will mein Baby sehen.«
Der Arzt und Tom tauschten einen Blick. Was ging hier vor sich? Steckte Tom etwa mit dem unter einer Decke?
»Natürlich!«, erwiderte Dr. Roth schließlich mit einem milden Lächeln. »Vielleicht unterhalten wir uns zuerst ein wenig.«
»Ich will mich nicht unterhalten.« Laura nickte in Richtung des Rollstuhls. »Ich will endlich mein Baby sehen.«
»Ihr Baby wird gerade untersucht. Sie können jetzt nicht hin.« Sie war sich fast sicher, dass er sie belog. Warum? Gerade eben hatte Tom doch behauptet, dass Mia am Leben war. Noch! Wenn sie länger zögerten, würde sie ihre Tochter vielleicht nicht mehr sehen.
»Woher wollen Sie das wissen?!«, blaffte sie den Arzt daher an. Die Wut kochte erneut hoch, stärker als zuvor. »Sie arbeiten doch auf einer anderen Station! Ich habe Sie vorhin auf der Neonatologie gesehen! Was machen Sie jetzt also hier bei mir? Hören Sie auf, mich für dumm verkaufen zu wollen!«
»Schatz, beruhige dich!« Tom legte seine Hand auf ihren Unterarm.
»Einen Scheiß werde ich tun!« Sie stieß ihren Mann von sich. »Du machst doch gemeinsame Sache mit denen! Ich will, dass mich sofort jemand aufklärt! Was ist hier los?! Wieso lügt mich jeder an? Und wieso lässt mich niemand zu meinem Baby?!«
Laura war so außer sich, dass sie das Bett verlassen hatte und im Raum auf- und ablief. Sie wollte gerade zu einer weiteren Schimpftirade ansetzen, als Babygeschrei sie innehalten ließ. War das ihr Baby? Wo war ihr Mädchen? Sie musste ganz in der Nähe sein. Tom wollte sie aufhalten, doch sie schubste ihn zur Seite und lief in den Gang hinaus. Gerade noch rechtzeitig sah sie, wie eine Krankenschwester ein Gitterbettchen um die Ecke schob.
Kapitel 6
Laura dachte nicht nach, sondern nahm die Verfolgung auf. Das Geschrei wurde immer lauter und erinnerte Laura an die Rufe, die eine Krähe ausstößt. Es war nicht der einzige Laut – auch Tom rief nach ihr. Laura ignorierte ihren Mann jedoch und beschleunigte ihre Schritte stattdessen. Endlich sah sie die Schwester wieder, die das Gitterbett vor sich herschob und damit den Aufzug ansteuerte. Darin lag das weinende Kind.
»Warten Sie!«, schrie Laura, doch die Krankenschwester drehte sich nicht um. Entweder hörte sie sie nicht oder sie ignorierte Laura einfach. »Bitte …« Laura begann zu laufen. Der Lift öffnete sich. Die Schwester trat ein. Laura rannte regelrecht um ihr Leben. Plötzlich überfiel sie ein Schwindelanfall. In letzter Sekunde lehnte sie sich an die Mauer, um nicht umzukippen.
»Bitte, warten Sie doch!« Verzweifelt sah sie, wie die Tür sich schloss – nur ein paar Meter vor ihrer Nase. Das Geschrei verstummte. Jemand rempelte sie an. Ein alter Mann warf ihr einen verstörten Blick zu. Der Mafioso-Typ von vorhin beobachtete sie schon wieder. Als sich ihre Augen trafen, wandte er sich ab und bog um die Ecke in den Gang, aus dem Laura eben gekommen war. Sie verschwendete keinen weiteren Gedanken an ihn, dachte nur an Mia.
Laura überwand die letzten Meter und hielt vor der grauen Aufzugtür, stützte sich daran ab und begann laut los zu schluchzen. Vielleicht war ihre Reaktion überzogen, aber all die Unsicherheiten und die traumatischen Erlebnisse zehrten an ihr. Irgendwas ging hier vor sich. Warum wollte sie jeder ständig von ihrem Kind fernhalten? Sie war überzeugt, dass das Baby in dem Gitterbettchen ihre Tochter war. Es war, als hätte man ihr Mia ein zweites Mal geraubt. Mit ihren Händen hämmerte sie gegen die geschlossene Tür.
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