In unserer Epoche, in welcher unter allen Bürgerrechten die Freiheit und die Gleichheit an die erste Stelle gesetzt wurden, fordert der Zeitgeist, alle überlieferten Bräuche, alle beengenden Gewohnheiten und alle sogenannten Tabus beiseite zu räumen. Darum kann aus diesen ihren ursprünglichen Quellen eine verbindliche Ethik für alle nicht mehr abgeleitet werden. Die Verantwortung nicht nur für den Einzelnen, sondern für das Leben insgesamt liegt dennoch oft in wenigen Händen. Das Risiko aber tragen alle, und alle will heißen: nicht nur die Menschen unserer Generation, sondern auch die, die da kommen sollen, und mit ihnen die Tier- und die Pflanzenwelt, welch letztere die anderen bisher am Leben erhielt. Allein das Aussterben einer einzigen Spezies, man nehme zum Beispiel die Bienen, kann alles atmende Leben gefährden. Erst die Zukunft wird zeigen, ob der Verlust der Lebenssicherheit durch den Gewinn der Handlungsfreiheit aufgewogen werden kann.
Eine Ethik, die ihre Werte allein aus den Sitten und Gebräuchen vergangener Zeiten schöpft, ist heute nicht mehr argumentierbar. Wir leben in einer Zeit, in der alles Tun und Denken auf das gerichtet scheint, was da kommen soll, oder droht zu kommen. An alle Tore wird gepocht, um freien Fortschritt zu fordern, ohne zu wissen wohin. Überall erheben sich Stimmen, die nach Reformen rufen, beklagt wird ungeduldig deren Stau in den Parlamenten und Verwaltungen. Alle wollen nur immer voran und schütteln ab, was sie behindern könnte. Nicht was immer schon gegolten hat soll weiter gelten. Dass solch weiterdrängendes Handeln jedoch die Folgen unverantwortlichen Tuns auf kommende Generationen verschiebt, das gilt es heute zu bedenken. Peter Sloterdijk spricht von einem blinden Sturz in die Zukunft. Darum muss umso dringender gefragt werden, was denn weiterhin gelten kann vom „ehrwürdig Alten“ und seinen Bräuchen und was neu Geltung gewinnen soll für unsere Welt und ihren Fortbestand in einer von uns bereits in Haftung genommenen Zukunft.
DER WURZELGRUND DER ETHIK
In einem ersten Versuch habe ich diesen Abschnitt mit dem Titel „die Fundamente der Ethik“ überschreiben wollen. Dann aber habe ich mich besonnen, dass wir es hier nicht mit einem fest gegründeten, unbeweglichen Bau, sondern mit einem wachsenden organischen Gebilde, vergleichbar einem Baum, zu tun haben, dessen Wurzelverzweigungen es nachzuforschen gilt, soweit dies gelingen kann. In jedem Fall hat die Ethik, wie alles vom Menschen Geschaffene und Geübte, einen Werdegang durchlaufen, dessen Anfänge im Dunkeln liegen, einem Dunkeln so tief, dass unsere Werkzeuge nicht hinreichen, um es zu ergraben. Man erkannte, dass man nach den Werten suchen musste, die unser Sein und Denken nähren. Und da würden die Werte, welche die Tagespolitiker und Richter zu nennen gewohnt sind – Demokratie, Verfassung, Freiheit des Individuums, Recht auf Eigentum, Freizügigkeit, Unverletzlichkeit der Person, Gleichberechtigung der Geschlechter –, nur eben die obenauf ruhenden sein, die oft von den Herrschenden allzu leicht beiseite geräumt werden. Wer tiefer fragt, muss eine Philosophie der Werte eröffnen, was den Rahmen dieser Betrachtungen weit überschreiten würde und hier nicht geschehen soll. Wer allein nach dem Wurzelgrund der Ethik sucht, hat sich ohnehin mehr aufgeladen als er zu leisten imstande ist und wird sich dabei bescheiden von verschiedenen Annahmen leiten lassen, die hier angeführt werden sollen. Es sind vier an der Zahl.
Die erste Annahme lautet: Die Forderungen der Ethik haben sich in einer langen tastenden Übung innerhalb von Sippen, Verwandtschaften, Interessengemeinschaften gebildet; sie wurden von unseren Vorfahren durch Übereinkunft begründet, sich selbst und denen, die mit ihnen leben und nach ihnen kommen, zur Verpflichtung einander beizustehen, die Nahrung zu teilen, die Kinder zu schützen, die Alten zu pflegen und die toten Ahnen zu ehren. Der Mensch ist offenbar, wie auch die meisten Tiere, zu gemeinschaftlichem Leben bestimmt. Durch Erfahrung hat sich ergeben, so können wir rückblickend vermuten, dass unsere Vorfahren, als sie den Schutz der Wälder verlassen hatten, nur durch Zusammenrottung erfolgreich ihre Beute erjagen und sich selbst der Gefahren der Savanne erwehren konnten. Sie haben, von ihren Instinkten geleitet, in diesen Gruppen gemeinsame Formen der Verständigung durch Laute und Gesten, Verhaltensregeln gefunden und auf Dauer gefestigt. Das, was wir heute als Sitte oder Brauchtum bezeichnen, hat sich durch die Erkenntnisse des gemeinschaftlichen Jagens, Sammelns, Teilens und Verteidigens der Beute zu immer höheren Formen entwickelt. Die Regeln des Zusammenlebens entsprachen nach und nach einer aus den verschiedensten Erfahrungen erwachsenen Übereinkunft. Aus diesen mögen die Pflichten des Einzelnen gegenüber den anderen erwachsen sein, ebenso wie die Rechte, die ein jeder einfordern durfte. So war der Einzelne den anderen Gliedern seiner Gruppe auf unterschiedliche Art verbunden. Wie stark solche Bindungen sich gestalten konnten, können wir auch heute noch ermessen, sei es in politischen Parteien, in religiösen oder kulturellen Vereinigungen, in Singvereinen, Sambaschulen oder Räuberbanden und am stärksten und oft gänzlich unbeherrschbar hervortretend in gemeinschaftlichen sportlichen Wettkämpfen oder kriegerischen Auseinandersetzungen von Staaten oder Völkern. Für seine Beheimatung in solch einer Gruppe konnte der Einzelne ein Anrecht auf Respektierung seines Daseins und seinen daraus folgenden Interessen erwarten. Es ist zu vermuten, dass sich dabei eine Rangordnung wie von selbst ergab, die nicht immer den Älteren oder Stärkeren an die Spitze stellte. Auf solchem Abwägen und Ausgleichen der Forderungen und Gewährleistungen gründeten sich nicht durch Diktat, sondern durch allgemeine Zustimmung die ethischen Regeln unseres Gemeinschaftslebens. Der homo erectus hat sich damit selbst Bewusstsein und Ansehen geschaffen. Eben diese Erfahrung des eigenen Wertes hat ihn mehr und mehr hervor wachsen lassen aus den Bedingungen seines kreatürlichen Daseins, sie bildet auch heute noch den Grund und Nährboden der Regeln, die Geltung gewonnen haben für das Zusammenleben Gleicher mit Gleichen.
Eine zweite Annahme lautet: Die Regeln wurden geoffenbart und aufgetragen durch eine überirdische Macht, eine Gottheit, und verkündet durch deren Priester, zusammen mit dem Gebot, die Überbringer der Botschaft und die Wächter über deren Befolgung zu ehren, im Namen dessen, der sie erwählt und gesandt hat. Diese Annahme verweist auf abwesende oder übergeordnete Mächte, die nicht oder nicht mehr zu belangen sind. Wenn man jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass auch die sehr verschiedenen Götter der Völker von den Menschen jeweils nach deren Bild und Gleichnis geschaffen wurden, muss man auch deren Gebote als solche erkennen, die nach irdischen Bedürfnissen erlassen wurden. Man gerät in die Gefilde der Theologie, wenn man weiter gräbt. Und die sollen hier, soweit es der Gegenstand erlaubt, gemieden werden. Dennoch: es bleibt im Grunde eine Überhebung, wenn man einem Schöpfergott Eigenschaften zuschreibt, die nach unseren Maßstäben entweder gut oder böse genannt werden. Sollte man diese Entscheidung nicht der Gottheit selbst überlassen? Sollte die Gottheit als gut zu erkennen sein, weil sie die Erde und damit den Menschen geschaffen hat, der doch offenbar alles andere als vollkommen gut ist, oder soll die Erde und alles Leben auf ihr gut sein, weil sie des Schaffens für würdig befunden wurde? Wem sich die Geheimnisse des Überirdischen erschlossen haben, der kann hier jede weitere Frage zurückweisen. Er ist anderen keine Rechenschaft schuldig.
Die dritte Annahme ist diese: Der Mensch durchschaut, sobald er sich zum aufrechten Gang erhoben, auf seinem fortschreitenden Wege mit einem mehr und mehr sich entwickelnden kritischen Verstand das Gewebe der Verpflichtungen und Bindungen, von Erwartungen und Befürchtungen der ihn bedingenden Natur und ihn umgebenden Wandergemeinschaft und wägt im Geiste die einen gegen die anderen ab, um sich dann zu entscheiden, welchen Weg er zu gehen hat, um zu einem gedeihlichen Zusammenleben mit anderen und zu einem selbst entworfenen Ziel zu gelangen. Wohl wissend, dass er auf diesem Weg nicht ohne Auseinandersetzungen vorankommen wird und sich nur durch große innere Überzeugung allen hemmenden Zwängen wird widersetzen können. Dies will heißen: Der Mensch entwirft sich selbst und plant seinen Weg und Fortschritt durch die Geschichte. Hier gerät man weiter fragend in die Bereiche der Werttheorie, die zu klären sucht, welches denn die geeichten Maßstäbe für die Werte seien, nach denen sich das Handeln in Gemeinschaft zu richten habe, oder ob hier nicht einfach nur alther geschleppte Übereinkünfte im Gewande der Logik sich Geltung verschafft haben, die sich nicht weiter begründen lassen. Dass eine solche Weise des Zusammenlebens erst in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Zivilisation zu einer wählbaren Möglichkeit wird, muss nicht lange erklärt werden.
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