Gemäss einer bei einem mittelgrossen Unternehmen durchgeführten Umfrage wird die Rechenschaftsablage gegenüber den Anteilseignern als wichtige Funktion betrachtet.
Ausschüttungsbemessungsfunktion
Um zu verhindern, dass die Aktionäre das »dauernde Gedeihen« (aOR 669/OR 960e) der Aktiengesellschaft als Träger des operativen Unternehmens durch betriebswirtschaftlich unangemessene Gewinnausschüttungen gefährden, kommt dem handelsrechtlichen Jahresabschluss auch die Aufgabe zu, nicht das tatsächlich erzielte Ergebnis, sondern durch eine besonders vorsichtige Bewertung, insbesondere durch Bildung stiller Reserven, den ausschüttungsfähigen Gewinn zu ermitteln. Man spricht in diesem Zusammenhang von der Ausschüttungsbemessungsfunktion des Jahresabschlusses. Dies steht jedoch im Widerspruch zur Rechenschaftsfunktion. Nach modernen Lehrmeinungen hat in diesem Interessenkonflikt jedoch die Rechenschaftsfunktion eindeutig den Vorrang. 104
Kapitalerhaltungsfunktion
Die Ausschüttungsbemessungsfunktion wird zudem durch Ausschüttungssperrvorschriften bei Kapitalgesellschaften ergänzt (OR 671 ff., E 2014 OR 672). Sie hat deshalb auch eine Kapitalerhaltungsfunktion. In AG und GmbH soll durch einschränkende Vorschriften zur Gewinnverwendung und Kapitalrückzahlungen ein Reinvermögen in der Höhe des Aktienkapitals bzw. des Stammkapitals erhalten bleiben. Weil die Haftung der Unternehmenseigentümer gegenüber den Gläubigern je nach Rechtsform des Unternehmens unterschiedlich ausfällt, ist die Gestaltung der Kapitalerhaltungsfunktion von der Rechtsform des Unternehmens abhängig (Personen-Unternehmen, Kapital-Unternehmen, Genossenschaft).
Nach dem Massgeblichkeitsprinzip ist der handelsrechtliche Einzelabschluss Anknüpfungspunkt für die Berechnung des steuerbaren Gewinns (Gewinnsteuer gemäss DBG 58 I) und des steuerbaren Eigenkapitals (Kapitalsteuer gemäss StHG 29). Weil die OR-Rechnungslegungsnormen jedoch bewusst Wahlrechte und Ermessensspielraum (Rückstellungen, Abschreibungen und Wertberichtigungen) zulassen, sehen die steuerrechtlichen Bewertungsvorschriften Korrekturen (»Aufrechnungen«) des Jahresabschlusses nach dem Rechnungslegungsrecht vor. 105
3.2 Adressaten der Rechnungslegung
Durch die Grundsätze ordnungsmässiger Buchführung (OR 957a II) und Rechnungslegung (OR 958c) geforderten Eigenschaften der Jahresrechnung sollen sich Dritte ein zuverlässiges Urteil über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens bilden können (OR 958).
Die Bezeichnung »Dritte« wird im OR nicht näher umschrieben. Wer berechtigt ist, über den Jahresabschluss informiert zu werden, ergibt sich aus den besonderen Bestimmungen über die Informationspflichten der Geschäftsführung gegenüber den Beteiligten (OR 541 für die einfache Gesellschaft, OR 557 II für die Kollektivgesellschaft, OR 600 III für die Kommanditgesellschaft, OR 696 für die Aktionäre, OR 801a für die nicht geschäftsführenden Gesellschafter der GmbH, OR 856 für die Genossenschafter), für die nicht geschäftsführenden Gesellschafter der GmbH oder des Unternehmens (OR 856 I)
Die Gläubiger haben in der Regel keinen gesetzlichen Anspruch auf Einblick in den Geschäfts- und Revisionsbericht. Sie müssen sich diesen durch besondere Vereinbarungen im Rahmen der Kreditbeziehungen sichern (z. B. Banken mit Covenants). Ein Einsichtsrecht steht den Gläubigern überdies nur zu, sofern sie ein schutzwürdiges Interesse nachweisen können, z. B. wenn ihre Forderung gefährdet erscheint (OR 958e II) oder sich auf konkreten Anzeichen beruhende Zweifel an der Zahlungsfähigkeit des Unternehmens nur durch Einsicht in die Jahres- und Konzernrechnung mit Revisionsbericht und allenfalls Lagebericht beseitigen lassen (BGE 137 III 255). 106
Das Einsichtsrecht bezieht sich überdies nicht auf den Abschluss nach einem anerkannten Standard. 107 Es besteht auch kein Anspruch, zusätzlich zur Einsicht am Geschäftssitz die Aushändigung oder Kopien der Unterlagen zu verlangen. 108
Eine Sonderstellung unter den Gläubigern haben die Obligationäre. Die Offenlegung gemäss OR 958a I Ziff. 1 gilt auch bei nicht kotierten Anleihensobligationen. Ungeachtet eines allfälligen Interesses der Öffentlichkeit entfällt die Offenlegungspflicht bei Grossunternehmen ohne börsenkotierte Beteiligungspapiere. 109
3.3 Rechtliche Normen der Rechnungslegung
3.3.1 Entwicklung und Bedeutung der Rechnungslegungsnormen
Verantwortungsbewusste Unternehmer und Manager sollten in ihrem ureigenen Interesse für eine zweckmässige Gestaltung der Buchführung und des Jahresabschlusses besorgt sein. Wie die Erfahrung zeigt, genügt das Eigeninteresse jedoch nicht. Deshalb sah sich der Gesetzgeber gezwungen, durch entsprechende Vorschriften die mit dem Jahresabschluss verbundenen Funktionen sicherzustellen und zwar schon in der Antike. 110 Die ersten umfassenden gesetzlichen Vorschriften über Buchführung und Jahresabschluss in der Neuzeit finden sich in der »Ordonnance sur le Commerce«, welche Colbert unter Louis XIV. 1673 als Reaktion auf die zahlreichen Konkurse, verursacht durch nachlässige oder betrügerische Unternehmertätigkeit, erlassen hatte. Mit der Ordonnance wurden die Kaufleute u. a. verpflichtet, alle zwei Jahre ein vollständiges Inventar aufzustellen.
Einen neuen Stellenwert erhielten die Buchführungsvorschriften im 19. Jahrhundert mit der Ausbreitung der Aktiengesellschaft. Wegen der fehlenden persönlichen Haftung des Unternehmenseigentümers erhielt die Kapitalerhaltungsfunktion des Jahresabschlusses eine ausschlaggebende Bedeutung. Die Vorschriften über die Buchführung und Bilanzierung der Aktiengesellschaften wurden deshalb in erster Linie im Hinblick auf den Schutz der Gesellschaftsgläubiger gestaltet.
Verschiedene Aufsehen erregende Unternehmenszusammenbrüche in den 1920er Jahren, zu deren Ursachen u. a. auch grobe Buchführungs- und Bilanzdelikte zählten, veranlassten den deutschen Gesetzgeber, 1931 strengere Jahresabschlussvorschriften für die Aktiengesellschaften zu erlassen. In der gleichen Periode gaben die Aktiengesellschaftsskandale in den USA Anlass, die Rechnungslegung von Gesellschaften mit börsenkotierten Titeln 1934 im Rahmen der Börsengesetzgebung (Securities Acts 1933 und 1934) zu regeln. Die USA-Normen dienten jedoch nicht nur – wie dies bis anhin der Fall war – dem Gläubigerschutz, sondern generell dem Schutz der Kapitalanleger vor Bilanzbetrügereien. Die mit der Revision des OR 1936 erlassenen Rechnungslegungsvorschriften (allgemeines Buchführungsrecht im aOR 957-965 und spezielles Recht für die Aktiengesellschaften (aOR 662-677) entsprachen jedoch schon damals nicht mehr den zeitgemässen Anforderungen. Nach 1970 ist die Entwicklung gekennzeichnet durch eine wachsende Regelungsdichte, insbesondere zur Erhöhung der Aussagekraft und Vergleichbarkeit, durch eine Ausdehnung der Jahresabschlussvorschriften auf Unternehmenszusammenschlüsse (Konzernrechnung) und durch Bestrebungen, über die Landesgesetzgebung hinaus eine internationale Harmonisierung der Rechnungslegungsnormen herbeizuführen: EU-Richtlinien 111 sowie internationale Rechnungslegungsnormen (International Financial Reporting Standards IFRS). Die Bestrebungen zu einer Modernisierung der schweizerischen Rechnungslegungsvorschriften von 1936 stiessen dagegen auf Opposition der Wirtschaft, welche auf die weitgehenden Freiheiten bei der Gestaltung der Jahresrechnung (aOR 663 II) verständlicherweise nicht verzichten wollte. Bei der Revision der aktienrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften blieben Vorschläge für die aussagekräftige Jahresrechnung weitgehend erfolgslos. Das revidierte Aktienrecht 1991 schreibt im Bereich Rechnungslegungsvorschriften nur ein Minimum vor. 112 Ein Vorentwurf 1998 zu einem Bundesgesetz über die Rechnungslegung und Revision (RRG) scheiterte am Widerstand vor allem aus KMU-Kreisen.
Читать дальше