Freud war nicht der Einzige, der andere Wege einschlug, nachdem er die Abreaktionskatharsis eine Weile praktiziert hatte. Auch Ploeger machte zunächst Erfahrungen mit ihr. Allerdings wendete er dabei keine Hypnose an, wie Breuer und Freud es noch getan hatten. Ploeger war am Psychodrama interessiert. Erste Gehversuche auf diesem Terrain machte er ab 1961 an der Universitäts-Nervenklinik Tübingen im Rahmen der dortigen stationären Psychotherapie. Seitdem ließ ihn das Psychodrama nicht mehr los. Mit seinem Wechsel an die RWTH Aachen setzte er es ab 1969 als Oberarzt der Abteilung für Psychiatrie und von 1977 bis zu seiner Emeritierung als Lehrstuhlinhaber des Fachbereichs Medizinische Psychologie ein. Wie Ploeger erklärt (vgl. Ploeger 1979, S. 841; 1983, S. 15), hättener und seine Mitarbeiter anfangs in Tübingen versucht, biografische Begebenheiten eines der Klienten der Therapiegruppe im Stegreifspiel zu reproduzieren und auf diese Weise die damit einhergehenden Konflikte zu entschärfen. Die Wirkweise sei die Katharsis, also die entlastende Abreaktion emotional-affektiver Stauungen gewesen, die der Betreffende im Leben draußen, aus welchen äußeren oder inneren Gründen auch immer, nicht zu entladen vermochte. Hierzu sei er erst durch die beschützende Scheinwelt des Psychodramas befähigt worden. Denn diese Welt habe ihn vor ernsthaften Bedrohungen bewahrt, die sich sonst bei affektiven Entladung en im Leben außerhalb der Therapie einzustellen pflegten. Bis hierher wären sie noch ganz Moreno gefolgt. Aber dann hätten sie sich dazu veranlasst gesehen, neue Wege zu beschreiten. Die Wende in ihrer Psychodrama -Technik habe ungewollt der Psychoanalytiker Wolfgang Loch herbeigeführt (vgl. Ploeger 1983, S. 10). Loch war damals Inhaber des ersten Lehrstuhls für Psychoanalyse und Psychotherapie in Deutschland. Diesen hatte man eigens für ihn an der Universität Tübingen eingerichtet. Seinerzeit seien von ihm, so Ploeger weiter, Balint-Gruppen 15für Mitarbeiter durchgeführt worden. Die Anregungen, welche er ihnen dort gegeben habe, hätten sie gelehrt, das Psychodrama aus der Sicht der Psychoanalyse zu beurteilen. Noch in Tübingen hätten sie deshalb damit begonnen, es grundlegend umzugestalten. Diese Ve ränderungen seien dann später an der RWTH Aachen fortentwickelt worden (vgl. Ploeger 1983, S. 10, 15).
Nun ist Moreno ebenfalls mit der psychoanalytischen Sichtweise konfrontiert worden. Freud kannte er sogar persönlich, weil er einmal dessen Vorlesung besucht hatte (vgl. Moreno, Moreno a. Moreno 1964, pp. 16 f.). Dieser verabschiedete damals jeden einzelnen seiner Hörer persönlich an der Türe und nutzte dabei die Gelegenheit, ein paar Worte mit ihnen zu wechseln (vgl. Schur 1973, S. 9). Dabei soll er Moreno gefragt haben, was er mache, was seine beruflichen Interessen seien. Moreno habe ihm geantwortet:
»Nun, Dr. Freud, ich beginne, wo Sie aufhören … Sie analysieren die Träume (der Menschen). Ich gebe ihnen den Mut, wieder zu träumen. Ich lehre sie, wie sie Gott spielen können« (vgl. Moreno 1946a, pp. 5 f.; vgl. Hutter u. Schwehm 2012, S. 96).
Das klingt nun nicht gerade so, als ob Moreno damals bereit gewesen wäre, sich auf Freuds Sichtweisen einzulassen oder diese gar in sein Psychodrama zu integrieren.
1.1.5Tiefenproduktion statt Tiefenanalyse?
Moreno stand der Psychoanalyse anfänglich tatsächlich sehr ablehnend gegenüber. Er folgte dem Grundsatz: Tiefenproduktion statt Tiefenanalyse (vgl. Moreno 1924, S. 71; 1950, p. 10). Seine Frau Zerka erklärt, warum: Moreno habe einfach bezweifelt, dass man die gesamte Seele allein durch Worte mitteilen könne. Das reine Sprechen sei für ihn kein Königsweg zur Psyche gewesen (vgl. Moreno et al. 2000, p. xv; vgl. Moreno 1988, S. 103). Auch er gehörte also zum Kreis derer, denen Reden nicht reicht. Was aber dann? Moreno hätte auf diese Frage geantwortet, dass statt des Redens das Handeln ideal dafür geeignet sei, der Seele Ausdruck zu verleihen (vgl. Moreno et al. 2000, p. xv; vgl. von Ameln u. Kramer 2015, S. 12). Denn dieses bringe die versteckte Dynamik des Patienten besser zum Vorschein, als Worte es je könnten (Moreno 1955, p. 17; vgl. Moreno a. Moreno 1959, p. 98). Darum lautete seine Devise: »Das Handeln kommt vor dem Wort.« 16Wolle man die Wahrheit der Seele ergründen, müsse man das Handeln dem Wort vorziehen und deshalb anstelle der Psychoanalyse die Methode des Psychodramas wählen (Moreno 1988, S. 77).
Der Primat des Handelns veranlasste Moreno dazu, sein Psychodrama anfangs geradezu als Gegenkonzept zur Psychoanalyse zu verstehen (vgl. Leutz 1974, S. 3). Strikt grenzte er die beiden voneinander ab. Hätte ihm mit dieser Einstellung daran gelegen sein können, das Psychodrama aus der Sicht der Psychoanalyse zu beurteilen und daraufhin ggf. sogar umzugestalten? Kaum vorstellbar. Doch Menschen ändern sich und mit ihnen ihre Lehrmeinungen. Das trifft auch auf Moreno zu. Später sprach er deutlich versöhnlicher, wenn es um das Verhältnis zwischen Psychodrama und Psychoanalyse ging. 1944 schlug er gar vor, das Psychodrama mit der Psychoanalyse zu einem analytischen Psychodrama zu verbinden (vgl. Moreno 1988, S. 90). Nun war er fest davon überzeugt, dass sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Schulen auflösen ließen, weil sie ohnehin nur aus Versäumnissen und Unkenntnis entstanden wären (vgl. Moreno a. Moreno 1959, p. 58). Zwar erkannte Moreno in der psychodramatischen Produktion ein Pendant zur freien Assoziation 17der Psychoanalyse (vgl. Hutter 2010, S. 19), allerdings habe er, wie der Psychodramatiker Christoph Hutter feststellt, auf das Freud so wichtige Element der Deutung des Materials verzichtet (vgl. Hutter 2010, S. 19). Hätte Moreno auch hier von ihm lernen können? Lässt sich die Deutung als Wirkprinzip im Psychodrama gestalten? Wenn ja, änderte das dann auch den Charakter des Spiels?
Inspiriert durch die Ideen des Psychoanalytikers Wolfang Loch haben Ploeger und seine Mitarbeiter Antworten auf diese Fragen gefunden. Ganz gegen den Strich dürften sie Moreno nicht gegangen sein. Immerhin ernannte er Ploeger 1971 – und damit nur wenige Jahre vor seinem Tod – zum Honorary Director of Psychodrama, Sociometry and Group Psychotherapy . Doch welche Änderungen nahm Ploeger am Psychodrama vor?
1.2Die Handlungseinsicht als Wirkprinzip der Tiefenpsychologisch fundierten Psychodramatherapie (TfPT)
Auch Ploeger hatte mit Morenos Psychodrama begonnen, dieses dann aber unter Einbeziehung der psychoanalytischen Sichtweise grundlegend umgestaltet und schließlich zur Tiefenpsychologisch fundierten Psychodramatherapie – kurz: TfPT – fortentwickelt.
Hierbei handelt es sich um eine psychodramatische Methode, die die meist unbewusst en Ursachen bestehender Symptome aufdeckt und bearbeitet. Denn das, was einstmals geschah, habe sich, so Ploeger, in fixierten Mustern niedergeschlagen, die in den späteren Epochen des Lebens immer wieder als Niederschlag der gleichen frühen Erlebniswelt sichtbar würden. Den in frühkindlichen Entwicklungsphasen internalisierten Erlebens- und Verhaltensweisen hafte eine nachdrückliche Starre, eine Unbeweglichkeit und zugleich Verbindlichkeit für den späteren erwachsenen Menschen an, die ihn dränge, sich immer wieder nach diesen früh erworbenen Mustern des Erlebens und Verhaltens zu richten. Diese Verpflichtung sei unbewusst. Sie mache sich aber dadurch bemerkbar, dass die danach ausgerichteten Verhaltensweisen späteren realen Lebenssituationen nicht gerecht würden oder sogar widersprächen, eben weil sie nicht den jeweils aktuellen Erlebniskonstellationen, sondern denen in der frühen Kindheit gegenüber den Bezugspersonen von damals entsprächen. Der erwachsene Mensch trage also nach diesem tiefenpsychologischen Konstrukt gewöhnlich und besonders im Falle einer Fehlhaltung rigide, überholte Motivationsstrukturen und daraus resultierende Erlebens- und Verhaltensweisen mit sich herum, wodurch er sich für die anderen Menschen, denen er im späteren Leben begegne, oft unangepasst, befremdlich und evtl. sogar störend verhalte. Auch er selbst leide gewöhnlich unter diesem Verhalten, ohne aber von dessen Ursprung zu wissen (vgl. Ploeger 1983, S. 26).
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