1.1.3Surplus Reality ist notwendig für Morenos Katharsis
Der Schein der Bühne soll dazu befähigen, frei zu handeln, wie es einem gerade in den Sinn kommt, ohne dafür ernsthafte Folgen tragen zu müssen (vgl. Moreno 1988, S. 78). Eines ist klar: Unsere Alltags realität kann hier kaum gemeint sein. Jene Realität, die Moreno für sein Psychodrama fordert, sprengt zweifellos ihren Rahmen, geht weit über sie hinaus. Deshalb gab er ihr wohl auch den Namen surplus reality . Das Wort surplus wurde von ihm nämlich in Anlehnung an den Begriff des Mehrwertes – engl. surplus value – bei Karl Marx verwendet (vgl. Moreno 1965, p. 212). Danach würde Surplus Reality so etwas wie »Mehrwert-Realität « bedeuten. Moreno selbst übersetzt sie in seinem Werk Gruppenpsychotherapie und Psychodrama mit »Überschuss-Realität « (vgl. Moreno 1988, S. 83). Leider hat er nur wenig zu ihr geschrieben. Angesichts der zentralen Bedeutung, die die Surplus Reality für sein Psychodrama hat, mag das durchaus überraschen (vgl. Moreno et al. 2000, p. ix; vgl. Watersong 2011, p. 18). Fügen wir zusammen, was über sie in Morenos Schriften zu finden ist, dann soll sie den Menschen mit einem »Mehr« an Realität versehen, als ihm das Leben erlaubt (vgl. Moreno 1988, S. 93), ihm eine neue, erweiterte Erfahrung von Wirklichkeit vermitteln (vgl. Moreno 1950, p. 4; 1988, S. 83). Denn Realität und Fantasie stünden hier nicht in Konflikt (vgl. Moreno 1946a, p. a.; 1946b, p. 249; 1953, p. 82), ganz im Gegenteil: In der Surplus Reality werde die Imagination zur Realität der Bühne (vgl. Moreno 1965, p. 212; vgl. Watersong 2011, p. 18). So beschreibt sie auch Morenos dritte Ehefrau – Zerka Toeman Moreno (vgl. Moreno et al. 2000, pp. 1 f., 20) –, die die Arbeit ihres Mannes über Jahrzehnte als Co-Therapeutin und Mitautorin begleitete. Ergänzend fügt sie hinzu, dass die Surplus Reality die Darstellung jener Dimensionen, Rollen, Szenen und Interaktionen erlaube, die das Leben weder zulassen konnte noch kann und die es vermutlich auch in Zukunft nicht gestatten wird (vgl. Moreno 1979, S. 33; vgl. Moreno et al. 2000, p. 5). Geschehe dies, bewirke das sog ar die tiefste Form der Katharsis (vgl. Moreno et al. 2000, p. 18).
Die Surplus Reality gestaltet sich also offenbar getreu dem Motto »anything goes«. Ein wenig mag das an die Methode des Brainstormings zur Ideenfindung erinnern. Nur dass diese hier nicht gedanklich in den Raum gestellt, sondern bereits in die Tat umgesetzt präsentiert werden. Doch Vorsicht …
1.1.4Schein ist nicht gleich Sein
Was im Schein der Bühne funktioniert, muss im Leben draußen keineswegs gelingen. Das »anything goes« mag für die Surplus Reality des Psychodramas gelten. Anzunehmen, dass es auch auf die äußere Realität zutrifft, wäre ein verhängnisvoller Fehler. Auch das Brainstorming kreiert zunächst ein Feuerwerk an mitunter tatsächlich recht abstrusen Ideen, von denen dann einige wirklich in die Lage versetzen können, ein real gegebenes Problem zu lösen. Diese herauszufinden, ist ja gerade Sinn und Zweck der Übung. Doch nicht jede der dabei aufkommenden Ideen stellt sich hernach als erfolgreiche Strategie heraus. Das trifft auch auf die kreativen Lösungswege in Morenos Psychodrama zu. Um diejenigen auszumachen, die sich angemessen in die äußere Realität implementieren lassen, bedarf es der Realitätsprobe (vgl. Leutz 1974, S. 78). Wird auf sie verzichtet, besteht die Gefahr, dass wir mit den Lösungsmöglichkeiten der Surplus Reality im Leben draußen gehörig auf die Nase fallen. Eine schmerzliche Erfahrung, die Moreno bereits im Alter von viereinhalb Jahren machte.
Damals habe er mit Nachbarskindern im Keller seines Elternhauses Gott und Engel spielen wollen. Alle hätten sie gemeinsam Stühle zusammengetragen und diese auf einen großen Tisch bis knapp unter die Kellerdecke getürmt. Er habe in dem Spiel Gott sein wollen. Die anderen hätten ihm dabei geholfen, auf den obersten Stuhl zu klettern und dort Platz zu nehmen. Singend seien sie dann um den Tisch gelaufen, ihre Arme wie Flügel um sich schlagend. Plötzlich sei von einem der Kinder die Frage an ihn gerichtet worden, warum er selbst nicht flöge. Moreno habe daraufhin seine Arme ausgebreitet und sich nur einen Augenblick später mit einem gebrochenen rechten Handgelenk auf dem Boden wiedergefunden (vgl. Moreno 1946a, p. 2).
Eindrücklich führt uns diese Geschichte die Bedeutung der Realitätsprobe vor Augen. In der Surplus Reality lassen sich spontan kreative Lösungswege ausprobieren, von denen der eine oder andere sogar geeignet sein mag, erfolgreich in der äußeren Realität umgesetzt zu werden. Dies aber bedarf stets der Überprüfung. Werden die gefundenen Lösungswege kritiklos auf das Leben draußen übertragen, besteht die Gefahr, kläglich mit ihnen zu scheitern, sich gar mehr Probleme einzuhandeln, als vorher bestanden.
Und einen weiteren Stolperstein gilt es zu umgehen. Moreno war sich dessen Existenz durchaus bewusst. Zwar steht bei ihm die integrative Katharsis zweifellos im Vordergrund. Daneben kommt in seinem Psychodrama allerdings weiterhin auch die Abreaktion vor (vgl. Masserman a. Moreno 1960, p. 19 f.; vgl. Krüger 1997, S. 74 f.; vgl. Hutter u. Schehm 2012, S. 160). Hierbei führt Handeln zur Entladung angestauter Affekte (siehe Abschnitt 1.1.1). Von einer solchen Abreaktionskatharsis 14in einer Psychodrama-Sitzung, die nach Morenos Tod an seinem Schaffensort in Beacon, im Staat New York, stattfand, berichtet der Arzt und Psychologe Andreas Ploeger.
Ein 35-jähriger Arzt hätte dort beklagt, sich in der Schule von seiner Lehrerin ungerecht behandelt und gegenüber seinen Mitschülern zurückgesetzt gefühlt zu haben. Daraufhin wären Szenen aus seiner Schulzeit auf die Bühne gebracht worden. Sie hätten ihm deutlich gemacht, dass es nicht die Lehrerin war, die ihn zurückgewiesen hatte. Er hatte sie nur wie seine Mutter erlebt, die ihm die Geschwister ständig vorgezogen und ihn hintangestellt hatte. Auch diese Kränkungen wären in Szene gesetzt worden. Dabei hätten sich die anderen Gruppenteilnehmer vorbehaltlos auf seine Seite gestellt und den Jungen in seiner Wut auf die Mutter bestärkt. Dann wäre er aufgefordert worden, sich die Mutter vor der eigens dafür präparierten rückwärtigen Wand des Bühnenraumes vorzustellen, um an ihr nun seine angestauten Aggression en abzulassen. Ermutigt durch die Zurufe der Leiterin und der anderen Teilnehmer, hätte er dieser dann bis zur Erschöpfung wüste Beschimpfungen sowie eigens dort für solche Aktionen bereitgehaltene verbeulte Bleche entgegengeschleudert. Am Ende der Sitzung hätten alle Beteiligten das Wohlgefühl geteilt, »reinen Tisch« gemacht zu haben (vgl. Ploeger 1983, S. 33).
Dieses Fallbeispiel von Ploeger illustriert prägnant, welch zweischneidiges Schwert die Abreaktionskatharsis tatsächlich ist. Einerseits gelingt es mit ihr sehr erfolgreich, Dampf abgelassen. Das wirkt zunächst einmal erleichternd – und zwar nicht nur für den, der sein Thema eingebracht hat, sondern auch für die anderen. Ploeger vergleicht das Gefühl, das sich hernach zumeist bei allen einstelle, mit der Zufriedenheit einer siegreichen Sportmannschaft (vgl. Ploeger 1983, S. 34; 1990, S. 95 f.).
Andererseits werden die angestauten Affekte in der Abreaktionskatharsis nur ausagiert. Damit verhindert sie leider nicht, dass sich künftig wieder neuer Druck aufbaut. Dazu müsste es ihr gelingen, an dessen Entstehungsbedingungen anzusetzen und diese zu bearbeiten (vgl. Ploeger 1983, S. 33). Das jedoch bleibt außen vor. Die daraus resultierende Gefahr sei, so Ploeger, offenkundig: Der Konflikt zwischen dem Klienten und seinen Bezugspersonen werde geschürt anstatt gelöst, die Front unnachgiebig verhärtet anstatt infrage gestellt, der Klient einseitig gegen seine Angehörigen gestärkt (vgl. Ploeger 1983, S. 32; 1990, S. 94). So kommt am Ende einer solchen Sitzung zu Recht die Frage auf, wie der Klient denn wohl in Zukunft mit jenen umgehen wird, an denen er soeben seine Affekte derart heftig abreagiert hat (vgl. Ploeger 1983, S. 32 f.; vgl. Scheiffele 2008, S. 152). Ein Problem, das Moreno schon erkannt hatte (siehe Abschnitt 1.1.1). Auch für ihn trug die Abreaktion nicht dazu bei, Symptome zu heilen. Sie würden allenfalls in ihrer Ausprägung gelindert, blieben aber grundsätzlich erhalten, oft sogar hartnäckiger als zuvor (vgl. Moreno 1950, p. 9). Aus diesem Grund wandte sich Freud später selbst von dieser Form der Katharsis ab. Sie wirkte eben nur symptomatisch, nicht kausal. Die Bedingungen, die den eingeklemmten Affekt en ursächlich zugrunde lägen, blieben unbeeinflusst (vgl. Freud u. Breuer 1925b, S. 186; 1925a, S. 24).
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