Markerts Hilferuf wurde erhört. In einem Vortrag78 erläuterte Ehlermann, der (deutsche) Leiter der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission, die Richtlinien: Monopole für Übertragung und Verteilung von Energie seien nicht zu rechtfertigen, ebenso wenig ausschließliche Rechte für die Erzeugung von Elektrizität und den Bau von Leitungen. Insbesondere sei die Funktionentrennung (Unbundling) geboten, die schon mit der Telekommunikationsendgeräte-Richtlinie der Kommission vom Mai 1988 vorgeschrieben worden war. Diese hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) ausdrücklich gebilligt.79 Vor allem verwies er darauf, dass die Wettbewerbsbehörden schon vor dem Erlass eines „ gesetzgeberischen Aktes “ des Rates zur Anordnung von Durchleitungen berechtigt seien. Die Verweigerung der Durchleitung stelle einen Missbrauch nach Art. 86 dar. Auch Konzessionsverträge, die das ausschließliche Recht zur Verlegung und zum Betrieb von Leitungen einräumten, seien wettbewerbsbeschränkend und fielen unter Art. 85 EGV. Zwar könnten nach Art. 85 Abs. 3 wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen vom Kartellverbot freigestellt werden. Jedoch sei es „ undenkbar, dass sie ein Verhalten freistellt, das als missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung zu qualifizieren wäre “. Die Richtlinien schüfen daher nicht neues Recht, sondern sollten lediglich „ politischen Konsens an die Stelle einer Vielzahl von langwierigen juristischen Auseinandersetzungen vor dem Gerichtshof in Luxemburg treten lassen “.
Das war der Startschuss für das Bundeskartellamt. Aufgegriffen werden sollten Konzessionsverträge an der Bundesgrenze, die die Einfuhr billigerer Energie aus Mitgliedstaaten nach Deutschland behinderten. Der erste Angriff auf den Gebietsschutz sollte an der deutsch-französischen Grenze in Kehl starten. Er wurde aber wegen der bekannten Abneigung der Electricité de France gegen Direktbelieferung deutscher Verbraucher aufgegeben. Aufgegriffen wurde vielmehr ein Konzessionsvertrag des RWE-Konzerns mit der Stadt Kleve aus dem Jahr 1971, mit dem die ausschließliche Belieferung der 50.000 Einwohner und der Industrie Kleves über 55 Jahre festgelegt worden war. Der wirtschaftliche Vorteil für die Kunden in Kleve wäre bemerkenswert gewesen: Industriekunden mussten seinerzeit fast 28 Pf/kWh bezahlen, während der angrenzende niederländische Versorger nur 19,1 Pf/kWh verlangte. Es sollte „ ein Pilotfall “ werden, sagte Markert. Erstmalig habe sein Haus auf Art. 85 des EWG-Vertrags zurückgegriffen. Bundeskartellamts-Präsident Wolf sekundierte, es handele sich um ein „ wichtiges und grundsätzliches Pilotverfahren mit Domino-Effekt “. Mit der EG-Kommission habe man sich abgesprochen. Allerdings lief der attackierte Konzessionsvertrag wie alle sogenannten „ Altverträge “ nach § 103a Abs. 4, der mit der 4. GWB-Novelle eingeführt worden war, nur bis Ende 1994. Hieran scheiterte schließlich das Bundeskartellamt: RWE meldete nämlich den Konzessionsvertrag – trotz der Ankündigung des EG-Wettbewerbs-Hüters Ehlermann – bei der Kommission an, um nach Art. 85 Abs. 3 EWGV eine Freistellung zu erreichen. Das führte zu einem Wechsel der Zuständigkeit; das Bundeskartellamt musste den Fall nach Brüssel abgeben. Der Vertrag wurde dann 1994 nicht mehr verlängert, weil Kleve eigene Stadtwerke gründete. Der Versuch war gescheitert.
Der nächste Fall, mit dem Markert eine andere Grundsatzfrage der Energieversorgung aufgriff, war der Demarkationsvertrag zwischen den Gasversorgern Ruhrgas und Thyssengas. Diese hatten am 27.9.1927 einen „ Gemeinschaftsarbeitsvertrag “ geschlossen, mit dem sie sich die Versorgung von Köln, Düsseldorf, Duisburg und Oberhausen mit Gas aufgeteilt hatten. Der Vertrag sollte am 19.1.1993 erneuert werden. Die Anmeldung wurde vom Amt untersagt. Rechtsgrundlage war wiederum Art. 85 Abs. 1 EGV in Verbindung mit Vorschriften des deutschen Kartellrechts. Diese Abmahnung betraf mit der Ruhrgas das führende deutsche Gas importierende und vertreibende Handelsunternehmen: Es war mit ca. 83 % an der gesamten Gasabgabe in der Bundesrepublik Deutschland beteiligt. Thyssengas war mit einem Anteil von 10 % dabei. Insgesamt betraf also diese Gebietsaufteilung deutlich über 90 % des deutschen Gasabsatzes, wäre sie wirksam geworden. Aber das Amt scheiterte beim Berliner Kammergericht: Das Gericht beanstandete die Verfügung mit der an den Haaren herbeigezogenen Begründung, das Amt habe die Bundesländer nicht angehört. Diesen Mangel heilte das Amt mit einer neuen Entscheidung. Diesen Fall legte das Kammergericht nunmehr dem EuGH vor.80 Aber nunmehr war der Gesetzgeber schneller: Mit dem Gesetzespaket zur Liberalisierung des Energierechts von 1998 wurde § 103, der den Gebietsschutz zuließ, aufgehoben. Man sieht: Auch einer energischen Wettbewerbsbehörde wird von den Konzernen, denen Gerichte häufig sekundieren, der Erfolg schwergemacht. Außerdem lieferten die Auseinandersetzungen zwischen Wirtschaft und Staat die Argumente für die Ebene, auf der die Weichen gestellt wurden, der europäischen Gesetzgebung.
2. Vorspiel II auf der Brüsseler Bühne
Als die Bundesregierung am 16.9.1996 den ersten Entwurf für ein Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts einbrachte, mit dem die Monopolstrukturen in der Energiewirtschaft abgeschafft werden sollten, war in Brüssel schon alles gelaufen. Zwar beschloss die EU über die Liberalisierung für den Elektrizitätsbinnenmarkt erst mit der Richtlinie vom 19.12.199681, einige Monate später. Dabei waren Monopole auch für die Energiemärkte eigentlich durch die Art. 85 und 86 des EWG-Vertrags von 1956 von Anfang an verboten. Aber es hatte bis zum 21.1.1992 gedauert, bis die Kommission nach jahrelangen Vorarbeiten einen ersten Vorschlag für eine Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie vorlegte.82 Er war allerdings gescheitert. Denn die Mitgliedstaaten, ihre Energieunternehmen und der Verbände hatten in Brüssel eine regelrechte Schlacht geschlagen, um der Richtlinie den Biss zu nehmen; mit Erfolg: Der Wirtschafts- und Sozialausschuss hegte ernsthafte Bedenken, das Europäische Parlament meldete eine Vielzahl von Änderungswünschen an und beanstandete vor allem, dass Art. 90 Abs. 2 EGV nicht Rechnung getragen worden war.83 Dort heißt es, dass Einschränkungen des Wettbewerbs zulässig sind, wenn dieser Unternehmen, die mit gemeinwirtschaftlichen Aufgaben betraut sind, die Erfüllung dieser Aufgaben unmöglich macht. In Brüssel reklamierten deshalb die Konzerne, dass sie in den Mitgliedstaaten in großem Umfang gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen erfüllen müssten; zuhause zogen sie allerdings ernsthaft in Zweifel, dass die Energieversorgung überhaupt eine öffentliche Aufgabe sei.84
Die Einigung kam erst zustande, nachdem die Richtlinie den Mitgliedstaaten eine ungewöhnlich große Anzahl von Optionen zur Verfügung gestellt hatte; allerdings schloss sie einige Gestaltungen auch von vornherein aus. Die Angriffe aus den Mitgliedstaaten bestritten der EU schon die Zuständigkeit zu einer gemeinschaftsrechtlichen Ordnung der Energiemärkte; dazu zählte gerade auch Deutschland.85 Im Zentrum der Arbeiten stand der Netzzugang, der sogenannte Third Party Access (TPA): Wettbewerber benötigen freien Zugang zum Kunden, daher war es nötig, die Monopole der Netzbetreiber für die Netznutzung einzuschränken oder vollständig zu beseitigen. Der Blockade eines Anspruchs auf Netzzugang diente in Deutschland vor allem die Berufung der Netzbetreiber auf zwei Grundrechte, nämlich einmal das Grundrecht auf Eigentum in Art. 14 GG und die Freiheit der Berufswahl und insbesondere -ausübung nach Art. 12 GG. Allerdings war zu beachten, dass die für die Beurteilung maßgebliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht etwa auf die Grundrechtsdogmatik der Mitgliedstaaten, insbesondere auch die deutsche, abstellte, sondern auf die gemeinschaftsrechtlich geschützten Grundrechte. Dort hieß es, dass die Grundrechte „ keine allgemeine Geltung beanspruchen (können), sondern ... im Hinblick auf die gesellschaftliche Funktion gesehen werden “ müssen.86 Daher könnten „ die Ausübung des Eigentumsrechts und die freie Berufsausübung Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft dienen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Angriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrer Wesentlichkeit antastet “. Daher erschienen die Gestaltungsmöglichkeiten der EU ziemlich weitgehend. Auf der anderen Seite standen freilich die Quasi-Staatsmonopole für die Versorgung mit Strom und Gas in Frankreich, Spanien und Italien, die diese Staaten zu hinhaltendem Widerstand motivierten.
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