Die Bucht der Spanier erstrahlte regelrecht im Lichterglanz. Capitán Cubera hatte alle verfügbaren Lampen setzen lassen, damit die Arbeiten an Bord der Schiffe offenbar möglichst lange andauern konnten. Wie es schien, hatte er sogar vor, die Schiffszimmerleute und ihre Helfer die ganze Nacht hindurch arbeiten zu lassen.
Gegen zehn Uhr änderte sich die Szenerie jedoch. Einige der Lampen hatten zu blaken begonnen und waren schließlich ganz erloschen. An Bord des Flaggschiffs „San José“ hatte ein Palaver zwischen Offizieren und Decksleuten eingesetzt. Die Entscheidung wurde schließlich von einem Mann getroffen, bei dem es sich dem Auftreten und dem Erscheinungsbild nach nur um Cubera handeln konnte.
Die Reparaturarbeiten wurden eingestellt.
„Die haben nicht genug Öl für die Lampen“, sagte Matt Davies halblaut. Das Blitzen seiner Zähne in der Dunkelheit zeigte an, daß er grinste.
Es zeigte sich, daß er recht hatte. Bis auf die Heck- und die Kuhllaternen wurden auf den großen Schiffen der Spanier alle Lampen gelöscht. Auf der Schaluppe brannte ohnehin nur ein einsame Funzel.
Dann, gegen Mitternacht, wurden die Männer von der „Empress“ Zeugen eines Geschehens, das ihnen zunächst in höchstem Maße rätselhaft erschien.
Folgsam hatte sich Don Antonio de Quintanilla gleich nach Abbruch der Reparaturarbeiten in seine Kammer begeben. Ächzend hatte er sich auf die Koje fallen lassen und alle viere von sich gestreckt.
Noch immer lag er regungslos und betrachtete seinen Bauch, der sich bei jedem Atemzug hob und senkte. Don Antonio fühlte sich so erschöpft wie selten zuvor. Wirklich harte Arbeit hatte er geleistet, und er war überzeugt, daß das auch anerkannt wurde. Den ganzen Tag über war er auf den Beinen gewesen, um die Listen zusammenzustellen, die Cubera brauchte.
Ein Grinsen huschte über die Wulstlippen de Quintanillas.
Cubera, dieser Einfaltspinsel, hatte sich tatsächlich beeindrucken lassen. Das folgerte nicht zuletzt aus der Tatsache, daß er den Posten vor der Kammer abgezogen hatte. Seit er sich hierher zurückgezogen hatte, lauschte Don Antonio immer wieder angespannt.
Aber da waren keine Schritte zu hören, die sich dem Schott seiner Achterdeckskammer näherten. Nun gut, es entband ihn von der lästigen Notwendigkeit, einen Aufpasser mit unauffälligen Mitteln aus dem Weg zu räumen.
Don Antonio verspürte einen unbändigen Appetit auf kandierte Früchte. Aber er mußte sich zwingen, seine Gedanken auf die wichtigeren Dinge zu konzentrieren. Sein Vorrat an Süßigkeiten war längst aufgebraucht. Zwar litt er keinen Hunger, denn die Verpflegung war hervorragend gewesen. Doch der Verzicht auf die Naschgewohnheiten gab ihm trotzdem das Gefühl, ein schmerzendes Loch im Bauch zu haben.
Mit aller Willenskraft konzentrierte er sich auf die Fäden, die er während der vergangenen Stunden gesponnen hatte. Er wußte, wie wichtig es war, noch einmal alles zu überdenken. Denn einen Fehler konnte er sich nicht leisten.
Der geringste Fehler bedeutete den sicheren Tod.
Nach dem Mordversuch würde Cubera nicht mehr mit sich spaßen lassen. Dann würde ihn auch der Gouverneursrang nicht mehr davon abbringen, ein Standgericht abzuhalten. Daher mußte alles reibungslos und ohne Zwischenfall ablaufen.
Die wichtigste Voraussetzung hatte Don Antonio durch seinen Arbeitseinsatz geschaffen. Cubera glaubte an seinen ehrlichen Einsatzwillen. Gut so.
In seiner Eigenschaft als „Listenführer“ hatte Don Antonio bereits in den Nachmittagsstunden seine Netze ausgeworfen – unauffällig, vorsichtig und doch wirkungsvoll. Für ihn gab es nur ein einziges Ziel:
Flucht!
Der einstmals stolze Kampfverband war dem Untergang geweiht. Daran gab es für den Gouverneur nicht den leisesten Zweifel. Der klägliche Rest an Schiffen hatte praktisch keine Chance gegen die Piraten. Nein, Don Antonio de Quintanilla wollte nicht sterben. Unvorstellbar der Gedanke, noch einmal an einem Kampfgeschehen teilnehmen zu müssen. Jegliches eigene Risiko für Leib und Leben mußte vermieden werden.
Tapferkeit vermochte Don Antonio nur dann vorzutäuschen, wenn er sich in den hintersten Linien einer Streitmacht wußte, die dem Feind mit absoluter. Sicherheit überlegen war.
Auch die Reichtümer der Piraten hatten jeglichen Reiz für ihn verloren. Jetzt ging es nur noch um das nackte Leben, und da mußte man alle anderen Überlegungen ausklammern. Das Totenhemd hatte eben keine Taschen.
Die geeignete Person für die Verwirklichung seines Vorhabens hatte Don Antonio mit untrüglichem Instinkt gefunden.
Der Schaluppenführer, ein Sub-Teniente namens Vicente de Pinzón, war haargenau der richtige Mann für das Unternehmen. Natürlich hatte Don Antonio es nicht als Fahnenflucht bezeichnet, was es im Grunde war. Seine vornehme Ausdrucksweise erlaubte den Gebrauch solcher Worte nicht. Und de Pinzón hatte denn auch offenbar genügend Bildung, um die Dinge nicht auf vulgäre Weise offen auszusprechen.
Don Antonio war beim Zusammenstellen der Listen aufgefallen, daß der Schaluppenführer beim Landungsangriff auf die Schlangen-Insel offenbar jene vornehme Zurückhaltung geübt hatte, die unter Umständen solcher Art nun einmal geboten war, wenn man ein Minimum an Wertschätzung für die eigene Person hatte. De Pinzón hatte sich beim Angriff jedenfalls nicht in den Vordergrund gedrängt und auf diese Weise die Schaluppe vor der Versenkung bewahrt. Sein Leben war ihm also erhalten geblieben.
Vicente de Pinzón war ein hagerer Mann mit verkniffenem Gesicht und eng zusammenstehenden Augen, die stechend und unruhig wirkten. Don Antonio ließ sich zum Teil auch von solchen äußeren Eindrücken leiten. Ein Mann von dieser Sorte war in der Lage, jeweils schnell und folgerichtig die für den eigenen Vorteil wichtigen Entscheidungen zu treffen.
Auch de Pinzón hatte den Ist-Bestand seines Proviants und seiner Munition melden müssen. Dabei war Don Antonio aufgefallen, daß der Schaluppenführer merkwürdig wenig Schwarzpulver und Kugeln verbraucht hatte. Ein unmißverständliches Zeichen also, daß sich dieser Mann gewiß nicht ins dickste Kampfgetümmel gestürzt hatte.
Es war Don Antonio gelungen, de Pinzón unbemerkt beiseite zu nehmen und ein paar vertrauensvolle Worte mit ihm zu wechseln. Auf Anhieb hatte sich gezeigt, daß der Instinkt richtig gewesen war. Vicente de Pinzón war sofort Feuer und Flamme gewesen.
Die Andeutung des Gouverneurs, man müsse sich von diesem Wahnsinnsunternehmen absetzen, bevor es zu spät sei, hatte ihn wahrhaftig begeistert. Dann war die Begeisterung des Schaluppenführers kaum noch zu zügeln gewesen, als er ein Säckchen mit Goldtalern aus den Wurstfingern des Gouverneurs empfangen hatte.
De Pinzón, soviel stand fest, war ab sofort ein durch und durch zuverlässiger Gefolgsmann.
Letzteres hatte sich auch dadurch gefestigt, daß Don Antonio es an weiteren goldenen Versprechungen nicht hatte mangeln lassen. Großherzig hatte er zugesagt, daß der Sub-Teniente nach Havanna versetzt und dort sofort zum Teniente befördert werden würde – nach geglückter Mission, versteht sich. Weiteren Beförderungen in zügiger Folge solle dann ebenfalls nichts mehr im Wege stehen.
Solche Glockenklänge hörte Vicente de Pinzón überaus gern.
Denn bisher hatte er mit seiner Schaluppe eintönigen Küstenwachdienst vor Remedios versehen – eine Aufgabe, bei der auch die Aufstiegsmöglichkeiten gleich Null waren.
Was die Zuverlässigkeit der Schaluppen-Crew betraf, hatte de Pinzón Don Antonio sofort zu beruhigen verstanden. Seine Männer waren samt und sonders aus ähnlichem Holz geschnitzt wie er. Wenn es schon sein mußte, ließ sich das Kämpfen nicht immer vermeiden, aber sterben – nein, sterben mußte man deshalb wirklich nicht gleich.
„Wie der Herr, so’s Gescherr“, hatte Don Antonio grinsend bemerkt. Und Vicente de Pinzón hatte zurückgegrinst. Ja, seine Männer hätten die Schnauze gestrichen voll nach allem, was sie mit diesem verteufelt harten Gegner bislang erlebt hatten.
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