Gemeinsam mit Ben Brighton, seinem Ersten Offizier, und Dan O’Flynn, seinem Navigator, zog sich Philip Hasard Killigrew in den Schatten der Palmen zu einer Beratung zurück.
„Gotlinde hat völlig recht“, sagte der Seewolf, „und Mary sorgt sich nicht ohne Grund.“
Auf seinen Wink hin berichtete Dan O’Flynn, was er rasch überschlägig durchgerechnet hatte.
„Für die Fahrt nach Andros kann man einen ganzen Tag rechnen, zurück vielleicht etwas mehr, wenn bei Nordostwinden aufgekreuzt werden muß. Sehr gut gerechnet also eine Reisezeit von drei Tagen hin und zurück. Zählt man noch einen oder zwei Tage Aufenthalt hinzu, hätte die ‚Empress‘ nach fünf Tagen wieder hier sein müssen – bei ganz großzügiger Kalkulation vielleicht nach sechs Tagen.“
Hasard und Ben nickten. Es gab nichts an der Tatsache zu deuteln: Nach mehr als zehn Tagen war Old O’Flynn eindeutig überfällig.
„Da war der Sturm am zweiten Juli“, sagte Ben Brighton und sprach das aus, was auch die beiden Freunde bewegte. „Wie ihr wißt, sind die Ausläufer auch hier an Great Abaco vorbeigezogen.“
„Old Donegals Schiffchen könnte durchaus in den Sturm geraten sein“, sagte Hasard und sah den Navigator an.
Dan nickte.
„Vernünftigerweise müßten sie vor dem Sturm gelenzt haben. Das bedeutet, daß sie mit der ‚Empress‘ westwärts gedriftet sind, vielleicht sogar bis in die Florida-Straße.“
Hasard rollte die Seekarte auseinander, die er mitgebracht hatte, legte sie auf den Boden und beschwerte die Ecken mit Steinen.
„Das hätte ich gern etwas genauer“, sagte er.
Dan ging in die Knie und bestimmte zunächst die Position, die die „Empress“ vermutlich bei Beginn des Sturms gehabt hatte. Er stimmte seine Berechnungen auf den Maßstab der Karte ab und hatte das Ergebnis im Handumdrehen.
„Wenn der Alte westwärts vor dem Sturm hergejagt ist“, sagte er, „dann könnte er auf diese Inselgruppe gestoßen sein.“
Ben Brighton beugte sich vor und entzifferte die Schrift über der Stelle, auf die Dan O’Flynn zeigte.
„Die Biminis“, sagte Ben trocken, richtete sich auf und blickte den Seewolf vielsagend an.
Hasard mußte ebenso grinsen wie seine beiden Freunde.
„Das will überhaupt nichts heißen“, sagte Hasard dennoch.
„Bist du davon überzeugt?“ entgegnete Dan, ohne sein Grinsen einzustellen. „Wahrscheinlich haben wir genau den Punkt erwischt, wo der Hase im Pfeffer liegt – will sagen, der Alte in der Quelle der ewigen Jugend.“
Hasard und Ben mußten lachen.
„Trotzdem kann ich mir das nicht vorstellen“, sagte Ben. „Er weiß, daß er bald Vater wird, und er müßte langsam kribbelig werden, weil er für seine künftige Familie noch immer kein Dach über den drei Köpfen gebaut hat.“
„Gehen wir von zwei Möglichkeiten aus“, sagte Hasard, „entweder hat Old Donegal im Sturm Schiffbruch erlitten, oder wir müssen ihn gewaltsam aus dem Jungbrunnen ziehen. Seht ihr eine andere Möglichkeit?“
„Es passieren Dinge zwischen Himmel und Erde …“, sagte Dan feixend, aber dann schüttelte er doch ebenso den Kopf wie Ben.
Der Seewolf zögerte nicht länger. Er rief sämtliche Mitglieder des Bundes der Korsaren am Strand zusammen und schilderte ihnen die Lage.
„Mein Vorschlag“, sagte Hasard, „wir brechen mit der ‚Isabella‘ und der ‚Le Griffon II.‘ gleich morgen früh auf. Und zwar segeln wir westwärts mit Kurs auf die Biminis und beginnen dort mit der Suche. Hat jemand etwas dagegen einzuwenden?“
Mary O’Flynn war die einzige, die sich meldete.
„Nichts einzuwenden“, sagte sie, als Hasard ihr auffordernd zunickte. „Nur eine zusätzliche Bitte. Tretet dem Alten bitte in meinem Namen kräftig in den Hintern. Und wenn er nicht schiffbrüchig auf einer Insel hockt, sondern in seinem komischen Jungbrunnen badet, dann hat er zwei Tritte verdient.“
Das Gelächter der Frauen und Männer vom Bund der Korsaren hallte weit auf die Bucht hinaus. Doch dann wurden sie rasch wieder ernst.
Die Mannschaften der „Isabella“ und der „Le Griffon II.“ begannen unverzüglich mit der Ausrüstung der Schiffe.
Mitten in diese Vorbereitungen platzte am Nachmittag ein vernehmliches Klingeln aus dem Bereich der Taubenschläge.
Wenig später erschien Gotlinde am Strand, Hasard, eben im Begriff, mit einer der Jollen zur „Isabella“ überzusetzen, sprang wieder an Land. Von allen Seiten eilten die Mitglieder des Bundes herbei. Innerhalb von Minuten hatte sich ein großer, erwartungsvoll schweigender Menschenkreis gebildet.
Hasard zog den Zettel aus dem Röhrchen, rollte ihn auseinander und las die Nachricht seines Vetters Arne vor.
„Acht Uhr, 9. Juli. Chaotische Zustände in H., da keine Führung. Aufruhr durch Mob und Diebesbanden – Plünderungen – verteidige Filiale – muß allerdings mit Aufgabe und Flucht rechnen – Hafen frei, da Miliz und Polizei Verteidigungsstellung im Gouverneurspalast bezogen haben. Habe Flucht-Schaluppe bereit, um mich mit Gruppe gegebenenfalls abzusetzen – dann Kurs Florida-Straße. Versuche jedoch, Stellung zu halten. Könnte Unterstützung durch B.d.K. brauchen – Arne.“
Alle am Strand standen wie vom Donner gerührt.
Der Einschlag eines 25-Pfünders hätte keine verheerendere Wirkung haben können. Niemand konnte die schlimme Nachricht auf Anhieb verdauen.
Hasard war der erste, der wieder zu Worten fand. Worte, die bedeutungsschwer in die Stille fielen. Jedem einzelnen der Anwesenden wurde dadurch klar, was man sich angesichts der knappen Zeilen Arne von Manteuffels zu denken hatte.
„Wir kommen nicht drum herum“, sagte der Seewolf, „wir müssen uns vor Augen führen, wie diese chaotische Situation in Havanna entstanden ist. Zunächst aber steht fest, daß der B.d.K. – der Bund der Korsaren – Arne und die Freunde nicht im Stich lassen wird. Daran gibt es meines Erachtens nichts zu rütteln.“
„Überhaupt nichts!“ rief der Wikinger dröhnend. „Arne und die anderen werden herausgehauen, und dann können sich die Dons in Havanna gegenseitig an die Gurgeln gehen. Ist doch klar, oder?“ Beifallheischend blickte er in die Runde.
Etliche Männer nickten zustimmend. Auf den ersten Blick war Thorfins Logik in der Tat bestechend.
Siri-Tong wechselte indessen einen Blick mit dem Seewolf, und er spürte, daß sie seine Gedanken erriet.
„So einfach ist das nicht, Thorfin“, sagte sie laut und vernehmlich. „Lassen wir Hasard weitersprechen.“
Der Seewolf nickte ihr zu.
„Wie gesagt“, fuhr er fort, „die Frage heißt: Wie ist diese Situation in Havanna entstanden? Ich bin überzeugt, daß wir vom Bund der Korsaren unser Quentchen dazu beigetragen haben. Vielleicht haben wir sogar den Ausschlag gegeben.“
„Na, fein!“ rief der Wikinger. „Da können wir doch mächtig stolz sein! Was stehen wir noch herum? Arne raushauen, und dann sollten sie …“ Ein strafender Blick von Gotlinde ließ ihn verstummen. Verlegen kratzte er sich am Helm und senkte die Riesenpranke dann wieder auf den Griff des „Messerchens“, das er vor sich in den Sand gestemmt hatte.
„Erinnern wir uns“, sagte Hasard, „Don Diego de Campos, seines Zeichens Generalkapitän, war geradezu besessen von dem Ziel, uns zur Strecke zu bringen. Er ist in den Tod gesegelt, hat also seine verdiente Strafe gefunden. Das ist die eine Seite der Münze, aus unserer Sicht gesehen. Die andere Seite, aus der Sicht der Bevölkerung von Havanna – in diesem Fall einschließlich von Arne und seiner Mannschaft –, muß man etwas anders betrachten. De Campos hatte in der kubanischen Hauptstadt die vollziehende Gewalt übernommen, nachdem Alonzo de Escobedo wegen Mordes und Amtsmißbrauchs verhaftet worden war.“
„Der Strolch müßte noch im Stadtgefängnis sitzen“, sagte Jean Ribault.
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