Schatten verschwanden im Torweg eines Lagerhauses.
Es war die höchst willkommene Chance, ein Exempel zu statuieren. Marcelo erinnerte sich an jene Zeiten, in denen er als eisenfressender Gardist gefürchtet gewesen war. Verdammt, dieses lichtscheue Gesindel sollte zu spüren kriegen, mit wem es sich anlegte.
Er war überzeugt, kein Risiko einzugehen, als er halblaut seine Befehle erteilte, während er an der Spitze seiner Patrouille auf das Lagerhaus zumarschierte. Auf den ersten Blick schien es jetzt, als ob bei dem Gebäude alles still sei. Klar, daß die Kerle sich in der Dunkelheit versteckt hatten und nur darauf warteten, bis die Patrouille vorbeigezogen war.
Zwanzig Schritte vor dem Lagerhaus verschwanden vier Gardisten im Torweg des Nachbargebäudes. Es war eine fließende Bewegung aus dem Marschtritt heraus, und der Klang der Schritte ließ nicht auf Anhieb vermuten, daß es nur noch die halbe Patrouille war, die da scheinbar ahnungslos an dem Lagerhaus vorbeimarschieren würde.
„Rechts schwenkt!“ zischte Capitán Marcelo.
Er zog seinen Säbel in dem Moment, in dem er an der Spitze seiner Männer in den Torweg des Lagerhauses stürmte. Ein Weinlager, das sah er noch aus den Augenwinkeln heraus. Natürlich! Auf den berauschenden Teil der Plünderei wollten die Schweinehunde keineswegs verzichten.
Fackeln flammten auf, von jenen anderen geworfen, die über den Nachbar-Hinterhof vordrangen und den Galgenstricken in den Rücken fielen.
Mit gnadenlosen Säbelhieben drang Marcelo gegen die Gestalten vor, die sich im Fackelschein abzeichneten. Größer als erwartet war die Schar der Kerle, die sich da plötzlich in die Enge getrieben sah. Schüsse peitschten. Schreie gellten. Zum ersten Male waren es Plünderer, die in die Falle gerieten. Capitán Marcelo gelang es, kurz nacheinander drei der Kerle mit dem Säbel niederzustrecken.
Doch unvermittelt, als er den Säbel eben wieder hochbringen wollte, sprang ihn aus dem Getümmel eine der Gestalten an. Er sah noch die blitzende Klinge. Dann löschte ein greller Schmerz sein Bewußtsein aus.
In der Lagebesprechung, die am darauffolgenden Morgen von Primer Teniente Echeverria geleitet wurde, konnte der Erfolg der Patrouille Marcelo gewürdigt werden. Der Capitán hatte schwere Stichwunden davongetragen und mußte Tag und Nacht von Ärzten überwacht werden. Außerdem hatte es bei der Patrouille nur drei Leichtverwundete gegeben.
Bei den Plünderern hatte es sich um insgesamt fünfzehn Kerle gehandelt. Zwölf waren getötet worden, drei hatten jedoch fliehen können. Einer der Gardisten war fest davon überzeugt, unter diesen drei Flüchtigen Alonzo de Escobedo erkannt zu haben.
Für einige Tage kehrte Ruhe ein, doch Primer Teniente Echeverria und die übrigen Offiziere wußten nur zu gut, daß es sich um eine Ruhe vor dem Sturm handelte. Der Gouverneurssessel war verwaister denn je, die Iststärke der Miliz und der Garde letztlich unter das Soll abgesunken.
Die Meute, die sich in ihre Rattenlöcher verkrochen hatte, wußte das. Nur vorübergehend glomm die Lunte im Verborgenen.
Die Bürgerversammlung fand am frühen Nachmittag im Saal der Kaufmannschaft von Havanna statt. Überwiegend mit Kaleschen, teilweise aber auch zu Fuß, eilten die Männer aus allen Teilen der Stadt herbei. Patrouillen, die rings um das große Gebäude aufgezogen waren, erweckten wenigstens das Gefühl der Sicherheit. Indes konnte man davon ausgehen, daß die Gefahr von Übergriffen zumindest bei Tageslicht gering war.
Arne von Manteuffel zählte zu jenen Bürgern, die dem Versammlungsort zu Fuß entgegenstrebten. Und er war der einzige, der keine sichtliche Eile an den Tag legte. Unter seinem Umhang trug er eine doppelläufige Pistole und einen Cutlass. Wer immer ihn aus dem Hinterhalt ansprang, würde sich die Zähne ausbeißen.
Aber nichts geschah. Es zeigte sich immer wieder, daß die Galgenstricke zu feige waren, bei Tag offene Angriffe zu unternehmen. Die Bezeichnung lichtscheu traf für diese Leute im wahrsten Sinne des Wortes zu.
Arne erinnerte sich an jene Nacht, von der er mittlerweile wußte, daß es die Nacht des Überfalls auf das Arsenal gewesen war. Der arme Kerl, den sie da in Reichweite seiner Faktorei umgebracht hatten, war einer von der Arsenalwache gewesen.
Nur in der Masse waren sie stark, diese Entfesselten von der Schattenseite des Lebens. Das zeigten sie immer wieder, wenn sie Wehrlose oder fast Wehrlose ausraubten und töteten.
Der holzgetäfelte Saal war schon nahezu vollständig besetzt. Trotz der frühen Tageszeit hatten Diener die Kerzen der Leuchter angezündet. Der Himmel über Havanna war noch immer wolkenverhangen. Das schwache Tageslicht, das durch die Fenster hereindrang, reichte den Schreibern nicht aus, um ihre Protokolle aufzusetzen. Und sollten Dokumente gelesen oder unterzeichnet werden müssen, so brauchten die Señores ebenfalls Licht, um den Federkiel führen zu können.
Arne von Manteuffel fand Platz in einer der mittleren Reihen. Kurz nachdem er sich gesetzt hatte, wurde bereits vorn, am Tisch der Versammlungsleitung, eine Glocke geschwungen. Das Gemurmel ließ nach und verebbte kurz darauf ganz. Ein stattlicher Mann mit sorgfältig gepflegtem Vollbart erhob sich.
„Señores“, sagte er mit dunkler, volltönender Stimme, „man hat mich gebeten, die Versammlungsführung vorerst zu übernehmen, bis wir jemanden für dieses Amt gewählt haben. Für die, die mich nicht kennen: Mein Name ist Felipe Herrera; ich bin Inhaber des Handelshauses Herrera y Castillo an der Calle de Mora. Grund für die Einberufung der Bürgerschaft ist die akute Notlage, in der wir uns befinden. Einziger Diskussionspunkt: sinnvolle Abwehrmaßnahmen. Ich bitte um Wortmeldungen.“
Sofort begann das Gemurmel. In der dritten oder vierten Reihe sprang jemand auf.
„Erst muß der Versammlungsleiter gewählt werden!“ rief er. „Hier muß alles seine Richtigkeit haben, sonst sind unsere Beschlüsse unwirksam!“
Einige Männer lachten.
„Was nutzt dir ein wirksamer Beschluß“, rief ein anderer, „wenn dich der Pöbel genauso wirksam ins Jenseits befördert?“
Erneutes Gelächter. Felipe Herrera schwang die Glocke, und es wurde allmählich wieder ruhig.
„Señores, ich bitte um Ihre Zustimmung, daß wir uns möglichst kurz fassen. Vor Einbruch der Dunkelheit sollten wir unsere Entscheidung in die Tat umgesetzt haben. Um das Verfahren abzukürzen, erklärte ich mich daher bereit, die Versammlungsführung weiter zu übernehmen, wenn niemand dagegen ist. Wir würden uns einen Wahlgang ersparen.“
Minutenlanges Gemurmel folgte. Dann erhob sich ein älterer Mann in der vordersten Reihe und wandte sich zu den anderen um.
„Bei allem Verständnis für Eile, Señores, muß ich doch sagen, daß wir uns an die Gepflogenheiten halten sollten. Ich meine, daß wir in der Person von Señor Don Alfonso Cortés y Menacha den geeigneten Versammlungsleiter hätten. Nichts gegen Señor Herrera, aber …“ Die weiteren Worte des grauhaarigen Mannes gingen im erneuten Stimmengewirr unter.
Arne von Manteuffel mußte sich zusammennehmen, um sich nicht an den Kopf zu fassen. Da fingen diese Leute allen Ernstes an, über Kompetenzfragen zu diskutieren! Natürlich, wie konnte sich auch ein einfacher Handelsmann namens Herrera erdreisten, eine Versammlung leiten zu wollen! Ein solches Amt gebührte einem Mann von Stand – wem denn sonst! Cortés y Menacha war Magistratsbeamter, und er war adlig. Das allein zählte.
Die nächste halbe Stunde verbrachten sie mit Für und Wider, bis sie allen Ernstes den adligen Beamten aus dem Magistrat zum Versammlungsleiter wählten. Bevor er abtrat, erlaubte sich Felipe Herrera den eindringlichen Hinweis, daß es darum gehe, geeignete Maßnahmen gegen den Pöbel zu ergreifen. Nur erbarmungslose Härte helfe im Kampf gegen das mordende und plündernde Gesindel.
Читать дальше