„Ich bin was?“ ächzte Marcelo dennoch.
„Sie sind Gouverneur, Señor Capitán“, sagte der Primer Teniente langsam und deutlich.
In der Bodega wäre nach diesen Worten das Fallen einer Stecknadel als lautes Klirren zu hören gewesen.
Capitán Don Luis Marcelo zerknirschte einen Fluch auf den Zähnen. Er konnte sich eben noch beherrschen, seinen Ärger nicht hinauszubrüllen.
Nicht genug, daß ihm diese beiden Offiziersaffen den so vielversprechend begonnenen Abend verdarben. Nein, sie mußten ihm auch noch eine solche Hiobsbotschaft überbringen!
Gouverneur!
Das bedeutete Verantwortung, Arbeit, Entscheidungen treffen, repräsentieren, im Licht der Öffentlichkeit stehen …
Marcelo duckte sich unwillkürlich unter der schweren Last, die er da auf sich zurücken sah.
Doch andererseits …
Gouverneur sein, bedeutete auch, in feinste Kreise vorzudringen. Was er da vom Schlafzimmer einer feinen Señora dahergeredet hatte, blieb dann nicht einmal abwegig.
Teufel auch, er hatte schon oft davon gehört, wie zügellos es in der vornehmen Gesellschaft zugehen sollte, wenn sie sich hinter verschlossenen Türen zurückzog. Warum sollte er daran nicht auch ein wenig teilhaben?
„Señor Capitán“, sagte Echeverria leise und eindringlich.
Marcelo nickte. Entschlossen klatschte er mit der flachen Hand auf den Tisch und stemmte sich hoch. Er schwankte etwas, als er auf beiden Beinen stand.
„Also gut, Señores“, sagte er brummend. „Ich nehme an, ich wohne jetzt im Gouverneurspalast. Richtig?“
„Selbstverständlich, Capitán“, antwortete Echeverria mit einer knapp bemessenen Verbeugung.
„Gut, gut.“ Marcelo wedelte energisch mit der Rechten. „Dann sorgen Sie nach der Rückkehr in die Garnison als erstes dafür, daß meine persönlichen Sachen in die Residenz gebracht werden. Denaro, Sie überwachen den Transport persönlich. Noch heute abend.“
„Jawohl, Señor Capitán.“ Der Teniente salutierte wohl oder übel.
„Fein“, sagte Marcelo mit zufriedenem Nicken. „Dann wollen wir mal. Folgen Sie mir, Señores.“
Capitán Marcelo hatte von sich selbst den Eindruck, daß er seinen beiden Untergebenen würdevoll voranschritt. Jeder in der Bodega, auch Echeverria und Denaro, konnte indessen sehen, daß sich der neue Gouverneur auf höchst unsicheren Beinen ins Freie begab.
Als das Glöckchen gebimmelt hatte und die Tür zugefallen war, setzte zunächst ein Raunen ein. Sehr rasch steigerte es sich zu einem lautstarken Durcheinander von Stimmen.
Die beiden Mädchen von der Plaza der Residenz erwiesen sich als sachkundige Führerinnen. Sie waren imstande, den schmucken Gardisten aus Santiago jede Frage über Havannas bedeutende Bauwerke und Plätze zu beantworten. Cisca und Graciela hatten sich bei ihren „Eroberungen“ untergehakt, und es behagte ihnen, ihrerseits als „Eroberungen“ betrachtet zu werden.
Mit so eindrucksvoller Begleitung hatten sie jedenfalls keine Angst, zur beginnenden Abendstunde noch durch die Gassen zu streifen.
„Jetzt zeigt ihr uns aber die Hafenschenken“, sagte Ciscas Begleiter, jener hochgewachsene junge Mann, der die Nachricht aus seiner Heimatstadt in den Gouverneurspalast von Havanna gebracht hatte.
„Ihr habt es versprochen“, fügte sein Gefährte hinzu, an dessen Seite Graciela beschwingt dahinschritt.
„Und was haben wir davon?“ entgegnete Cisca verschmitzt. „Wir haben ausdrücklich gesagt, daß wir solche Lokalitäten nicht betreten dürfen.“
Graciela wandte sich zu ihrer Freundin um.
„Das werden diese beiden raffinierten Burschen auch nicht von uns verlangen. Sie lassen sich die Schenken zeigen, bringen uns nach Hause und wissen dann genau, wohin sie müssen.“
Die beiden Männer protestierten mit übertriebener Empörung, wie sie dem scherzhaften Vorwurf angemessen war. Mit heiterem Wortgeplänkel schlenderten die beiden Pärchen dahin, bogen um eine Ecke und wurden erst nach etlichen Schritten auf die Szene aufmerksam, die sich vor ihren Augen abspielte.
Vor dem Eingang einer Bodega stand ein Einspänner, auf dessen Kutschbock ein Stadtgardist saß. Zwei Reitpferde waren am Wagenheck angeleint.
„Offizierspferde“, flüsterte Gracielas Begleiter, als sie stehenblieben. „Solche Prunksättel haben sie bei uns in Santiago auch. Die Señores, die den Ton angeben.“
Viele der – meist männlichen – Passanten waren ebenfalls stehengeblieben. Was sich da unter dem aus schmiedeeisernen Lettern gebildeten Schriftzug „Cascabel“ und dem kleinen Glöckchen anbahnte, konnte zumindest nicht uninteressant sein. Es würde sich also lohnen, ein wenig den Hals zu recken.
Wenig später sahen sie einen schwankenden Offizier, der in die Kutsche kletterte. Zwei weitere Offiziere, mit kerzengerader Haltung, schwangen sich in die Sättel der Pferde. Die Kutsche rollte los, die Reiter folgten und zwei Minuten später war die kleine Formation hinter der nächsten Gassenbiegung verschwunden.
Männer stürmten aus der Bodega.
„Wißt ihr, wer das war?“ rief einer, der offenbar mit einer Gruppe von Neugierigen in der Gasse bekannt war.
„Capitán Marcelo“, ertönte die Antwort. „War mal wieder voll bis obenhin, was? Da mußten sie ihn wieder abtransportieren.“
„Irrtum!“ schrie einer der anderen aus der Bodega „Cascabel“. „Das war Gouverneur Marcelo. Jawohl, ihr habt richtig gehört, Gouverneur Marcelo!“
Einen Moment herrschte Stille. Dann setzte heftiges Stimmengewirr ein.
Die beiden Mädchen wechselten einen Blick. Jetzt erinnerten sie sich an das Gespräch, das Señora Zinguala am späten Nachmittag mit einem Lieferanten geführt hatte. Der Mann hatte einen Vorfall vor dem Stadtgefängnis beobachtet. Dort hatte ein zerlumpter Kerl, offenbar ein Gefangener, behauptet, der neue Gouverneur zu sein.
Der Gefängnisdirektor hätte ihn verhaften lassen wollen, wäre angegriffen worden, und der angebliche Gouverneur hätte die Flucht ergriffen. Ein dürres Männchen mit gepuderter Lockenperücke hätte sich gegenüber dem Gefängnisdirektor mächtig aufgeblasen. Letzterer hätte sich aber wohl damit durchgesetzt, daß nach Generalkapitän de Campos der Rangnächste Gouverneur werden müsse.
„… soll de Campos tot sein!“ war aus der sich rasch vergrößernden Menschentraube vor der Bodega zu hören.
Die beiden Mädchen sahen ihre Begleiter an.
„Jetzt hat eure geheime Nachricht wohl nichts Geheimes mehr“, sagte Cisca.
„Nein“, erwiderte jener Gardist, der am Stand vor dem Palastportal das Gespräch mit Cisca und Graciela begonnen hatte. „Es stimmt Generalkapitän de Campos ist in Santiago gefallen. Wer allerdings sein Nachfolger wird, geht uns nichts an.“
„Dieser Capitán Marcelo hat einen sehr schlechten Ruf“, sagte Graciela, und sie errötete ein wenig, als sie fortfuhr. „Er soll ein Frauenheld und ein Säufer sein. Das weiß jedes Kind in der Stadt. Man wird ihm keinen Respekt entgegenbringen, wenn er tatsächlich Gouverneur sein sollte.“
Aus dem Pulk vor der Bodega lösten sich die ersten Gestalten. Die Neuigkeit von der Witzfigur Marcelo als Gouverneur würde wie ein Lauffeuer durch die Stadt gehen. Dabei stand jetzt schon fest, daß Marcelo in seiner neuen Funktion nur Gelächter ernten würde.
Die Leute nannten ihn einen versoffenen Hurenbock, bei dem nur noch in seltenen lichten Momenten jenes hart durchgreifende Rauhbein zum Vorschein kam, als das er einmal den Rang eines Capitáns und des Kommandanten erworben hatte.
Eine flackernde Öllampe erhellte die aufgeschlagenen Seiten des Dienstbuches, in das der neue Wachhabende soeben eingetragen hatte, daß er an diesem 25. Juni 1595 um sechs Uhr abends den Schutz des Waffenarsenals von Havanna übernommen habe.
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