Damit war die Sorge ausgeräumt, daß sie in die Luft flogen. Jetzt erst sahen sie sich genauer und sehr aufmerksam um.
Das Knacken und leise Krachen begleitete sie auf Schritt und Tritt. Sie gingen nach achtern, doch da stand mittlerweile alles unter Wasser.
„Zwecklos, da hineinzuwaten“, sagte Sven. „Da hält sich auch niemand mehr auf.“
Der Profos winkte ab. Da war wirklich nichts mehr zu holen. Deshalb gingen sie wieder zurück.
Auf dem Quarterdeck lagen Bruchstücke von Holz herum. Zerfetzte Segel waren in Streifen über die Planken verteilt. Der leichte Wind hob sie immer wieder an und ließ sie wie Leichentücher flattern.
Plötzlich blieb Stenmark wie angenagelt stehen. Sein Blick war auf die halbzerstörte Nagelbank gerichtet.
„Da liegt einer“, sagte er leise.
Der Mann war tot und lag auf dem Rücken. Zwei zerfetzte Planken bedeckten teilweise seinen Körper. Sein Hemd war blutig. Das Schrot aus einer Drehbasse hatte ihn getroffen.
Der Profos sah schweigend auf den Toten. Dann drehte er sich ebenso wortlos um und ging weiter, denn er hatte aus den Augenwinkeln etwas gesehen.
Sie fanden gleich darauf einen weiteren Toten, der übel zugerichtet war. Auch ihn hatte Drehbassenschrot getroffen.
„Diese dreckigen Strolche“, sagte Carberry aufgebracht. „Nicht einmal um die Toten kümmern sie sich. Sie lassen sie einfach an Deck liegen, diese verlausten Bastarde. Zumindest hätten sie sie über Bord geben können, wie sich das für einen Christenmenschen gehört.“
Der Profos konnte sich über solche Dinge immer sehr aufregen, und das tat er noch gründlicher, als sie den dritten Toten fanden.
Der befand sich weiter vorn zum Vordeck und lag unter einem teilweise zerschossenen Niedergang der Länge nach ausgestreckt. Es war ein bärtiger Kerl mit einem harten Gesicht, das selbst im Tod noch grimmig verzogen war.
„Drei Tote“, sagte Carberry empört. „Und alle drei lassen diese Halunken einfach so liegen. Wir werden sie nachher mitnehmen und irgendwo an Land begraben.“
Die Galeone arbeitete und ächzte inzwischen zum Gotterbarmen weiter.
„Was war das eben?“ fragte Nils Larsen. Er drehte sich um und lauschte mit vorgerecktem Kopf.
„Das war der Wind, der irgend etwas bewegt hat. Die Geräusche lassen sich kaum unterscheiden. Es kann auch eindringendes Wasser im Achterschiff gewesen sein.“
„Das hat sich aber verdammt anders angehört.“
„Das muß weiter vorn gewesen sein“, meinte Stenmark. „Wie ein Stöhnen klang es, nur sehr unterdrückt.“
Das Stöhnen, oder was immer es auch gewesen sein mochte, wiederholte sich nicht. Dafür traten die anderen Geräusche verstärkt auf, als sie zum Vordeck gingen.
Ein angelehntes Schott, das der Profos schon seit einer Weile mißtrauisch beobachtete, schwang hin und her. Manchmal knarrte es auch in den Angeln. Das Schott führte ins Vorschiff, aber dahinter war alles dunkel.
Mit den Pistolen und Blunderbussen in den Fäusten näherten sie sich dem Schott und nahmen seitlich davon Aufstellung.
Dann trat der Profos einen schnellen Schritt vor und riß es auf.
Zuerst hatten sie erwartet, daß sich ein paar Kerle in dem Raum verborgen hatten, um sie blitzartig zu überfallen und vielleicht als Geiseln zu nehmen. Deshalb hatte Carberry das Schott auch keine Sekunde aus den Augen gelassen.
Jetzt aber traf sie fast der Schlag, als das Schott geöffnet war.
Ein Mann in einem durchbluteten Hemd lag hinter dem Schott und blinzelte aus großen ängstlichen Augen in das hereinfallende Sonnenlicht.
Der Mann war gefesselt und geknebelt, obwohl er schwer verletzt sein mußte. Er wollte etwas sagen, doch der Knebel hinderte ihn daran, und so folgte nur ein ersticktes Geräusch.
„Das darf doch nicht wahr sein“, sagte Carberry erschüttert.
Der Mann in seinen Fesseln bewegte sich so, als ob er sich davonrollen wollte. Seine Angst schien unbeschreiblich zu sein.
Fassungslos standen Nils, Sven und Stenmark um den Mann herum. Sie konnten auch nicht glauben, was sie mit eigenen Augen sahen.
„Diese Drecksbande von Strolchen“, sagte Carberry voller Zorn. „Die lassen einen Verwundeten zurück, weil sie sich mit ihm nicht belasten wollten, weil er ihnen lästig war. Sie gehen einfach davon aus, daß wir uns um ihn zu kümmern haben.“
„Aber warum haben sie ihn geknebelt?“ fragte Stenmark entsetzt.
Carberry und Sven Nyberg beugten sich schon hinunter, um dem Mann den Knebel abzunehmen. Die Kerle hatten ihn so fest zugezogen, daß der Mann fast erstickt war.
„Wahrscheinlich wollten sie sein Geschrei nicht hören, weil es ihnen auf die Nerven ging“, meinte Carberry. Der Profos war von Wut bis zum Bersten erfüllt.
Sten schnitt ihm mit dem Entermesser die Fesseln durch.
„Keine Angst“, sagte der Profos, als er die wild rollenden Augen des Mannes sah. „Wir tun dir nichts. Du hast von uns nichts zu befürchten. Kannst du uns verstehen?“
Die Antwort bestand aus einem kläglichen Nicken. Das Gesicht des Mannes verzog sich wie unter fürchterlichen Schmerzen.
Auch wenn er ein Schnapphahn war, so tat er ihnen doch leid, denn was seine Kumpane mit ihm angestellt hatten, war an Gefühlsroheit und Menschenverachtung nicht mehr zu überbieten.
Der Profos regte sich noch mehr auf als über die drei Toten.
„Eins steht für mich fest. Wenn ich das gewußt hätte, dann wäre dieser Oberschnapphahn nicht mit einem blauen Auge davongekommen. Diese ganze Schwefelbande hätte das teuer bezahlt. So ein Scheiß! Aber hinterher ist man ja immer klüger.“
Er rannte voller Zorn zum Schanzkleid und blickte nach Süden, wohin die Schnapphähne gesegelt waren. In weiter Ferne waren jedoch nur noch zwei winzige Punkte zu erkennen, die sich zwischen dem Gewirr der zahlreichen Inseln bewegten.
Carberry schlug mit der Hand auf den zersplitterten Handlauf des Schanzkleides. Sein Blick war zornig auf die Punkte gerichtet.
„Jetzt ist es natürlich müßig, noch hinter den Kerlen herzusegeln“, sagte er. „Bis wir klar sind, haben die die Kimm längst hinter sich gebracht.“
Der Mann auf den Planken stöhnte laut. Wasser trat vor Schmerz in seine Augen.
Carberry wollte ihn aufheben und zur Gräting bringen, aber jede noch so leichte Berührung vertrug der Mann nicht.
„Dann lassen wir ihn am besten so liegen“, entschied er. Sie sprachen ein paar Worte Englisch, damit der Mann sie nicht verstand.
„Glaubst du, daß er das überleben wird?“ fragte Stenmark.
„Nein, ganz sicher nicht. Vielleicht noch ein paar Stunden, mehr bestimmt nicht. Er muß sehr schwer verletzt sein.“
Der Mann verstand sie nicht. Sein Gesicht entspannte sich ein wenig, seit ihm der Knebel nicht mehr die Luft abdrückte, aber der Schmerz stand nach wie vor in seinen Augen.
„Sven und Nils, ihr pullt hinüber und holt den Kutscher“, sagte der Profos. „Er soll sich beeilen. Wenn er dem Mann nicht mehr helfen kann, kann er vielleicht seine wahnsinnigen Schmerzen lindern. Schildert ihm kurz die Lage.“
Sven und Nils enterten ohne ein weiteres Wort ab und pullten zur „Empress“ hinüber. Von dort aus wurden sie immer noch mit den Spektiven beobachtet.
Carberry und Stenmark waren mit dem Sterbenden und den drei Toten allein.
Das Gesicht des Mannes veränderte sich auf erschreckende Weise. Es sah jetzt leichenblaß aus. Der Mund war etwas geöffnet, während er die Augen bis auf einen schmalen Spalt geschlossen hatte.
„Sind noch mehr von euch an Bord?“ fragte Carberry. „Kannst du mich überhaupt verstehen?“
Dem Mann bereitete es sichtliche Anstrengungen, zu sprechen. Aber er brachte ein paar Worte heraus, wenn auch sehr mühsam.
„Alle weg“, hauchte er. „Alle fort. Allein hier.“
Stenmark linste hinter das Schott, nahm die Pistole in die Faust und ging die paar Stufen hinunter. Er wollte sich nicht unbedingt darauf verlassen, daß alle weg waren. Vielleicht hatte der Mann auch nicht genau gewußt, was er sagte.
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