„Wer von Potosi nach Arica will oder den umgekehrten Weg einschlägt, kann nur diesen Pfad nehmen“, sagte Hasard.
„Richtig, er führt ja über ein paar Pässe“, sagte Dan. „Er scheint wirklich die einzige Verbindung zwischen den beiden Städten zu sein.“
„Ja.“ Hasard deutete zu den Steilfelsen nördlich des Pfades. „Wir beginnen gleich mit der Arbeit und präparieren die Felsen für den Ernstfall.“
Wenig später stiegen die Männer in den Felsen auf und lockerten unter der Aufsicht des bergkundigen Pater Aloysius Felsbrocken, die sie im geeigneten Moment nur anzustoßen brauchten, damit sie auf den Pfad hinunterstürzten.
Als dieses Werk vollbracht war, verordnete der Seewolf Ruhe und Schlaf. Matt Davies übernahm die erste Wache und konzentrierte sich auf die Beobachtung der östlichen Region. Nach ihm würde Mel Ferrow an der Reihe sein, dann Dan, dann Gary und schließlich Stenmark, so hatte Hasard die vierstündigen Wachschichten eingeteilt.
„Eine Frage habe ich noch“, sagte Jean Ribault lächelnd, als er sich neben Hasard niederließ. „Heute ist doch Silvester. Wie feiern wir eigentlich?“
„Hast du Lust zum Feiern?“
„Na ja, irgendwie müssen wir das neue Jahr ja begrüßen.“
„Dafür sorgt Diego“, brummte der Profos. „Keine Sorge. Und richtig auf die Pauke hauen können wir ja, wenn wir wieder an Bord der ‚Estrella‘ und der ‚San Lorenzo‘ sind.“
„Das finde ich auch“, pflichtete Hasard ihm bei.
Ribault grinste schief. „Ihr könnt einen so richtig in Stimmung bringen“, brummte er. „Dann penne ich doch lieber vom alten ins neue Jahr.“
Sie streckten sich auf ihren Lagern aus und waren wenig später eingeschlafen. Die Strapazen und Entbehrungen der letzten Tage und Wochen wirkten sich jetzt aus.
Auch Don Ramón fiel in einen tiefen Schlaf und schnarchte dünn und säuselnd. Toparca, Chupa und Atitla kauerten nicht weit von ihm entfernt in unmittelbarer Nähe der Maultiere. Sie schliefen nicht richtig, sie schlummerten nur im Hocken vor sich hin. Immer wieder rissen sie die Augen auf und starrten zu dem dicken Mann.
Er war jetzt gefesselt. Er hatte keine Chance, von dem Plateau zu fliehen, aber sie paßten trotzdem auf ihn auf. Gern hätten sie ihm die Kehle durchgeschnitten. Aber sie fügten sich dem Befehl des Mannes, der sie befreit und bestimmt hatte, daß Don Ramón de Cubillo am Leben blieb und den Trupp begleitete.
Am Vormittag des 1. Januar 1595 übernahm Mel Ferrow wieder eine Wache in den Steilfelsen am Pfad zum Plateau. Er war noch nicht lange auf seinem Späherposten, da sichtete er tief unter sich zwei Männer. Er duckte sich und beobachtete sie aufmerksam durch das Spektiv, dann verließ er seinen Posten und alarmierte den Seewolf.
„Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht zwei Aufseher aus Potosi sind“, sagte Mel. „Zwei ganz üble Hunde. Sie reiten auf zwei Maultieren heran und haben noch zwei Reservetiere dabei.“
„Das sind garantiert Boten, die in Arica Alarm schlagen sollen“, sagte Hasard. „Die kaufen wir uns.“
Delon und Ventura, die beiden Aufseher, ritten arglos und nichts ahnend den Pfad hinauf. Sie hatten in der Nacht ebenfalls biwakiert und waren munter und ausgeruht. Ständig mußten sie an die Belohnung denken, die der Polizeipräfekt von Potosi ihnen versprochen hatte. Das waren keine leeren Worte gewesen, der Mann war dafür bekannt, daß er auch hielt, was er versprach.
Hundert Dukaten, fünfzig für jeden! Damit konnte man schon einiges anfangen. Es war keine Riesensumme, aber der Grundstock eines künftigen Vermögens, wenn man richtig damit umzugehen verstand. Delon war von dem Gedanken besessen, ein Bordell zu eröffnen. Das war noch besser als eine Spielhölle. Sicherer Verdienst!
In Arica, so hatte er sich bereits vorgenommen, würde er mit einigen Hafenhuren sprechen, die möglicherweise bereit waren, in seine Dienste zu treten. Ventura würde sich beteiligen, daran gab es keinen Zweifel. Wenn sie ein Dutzend Weiber beschäftigten, die fleißig und willig die Kundschaft bedienten, hatten sie für den Rest ihrer Tage ausgesorgt.
Sie ritten auf das Plateau und sahen sich ein wenig um, aber plötzlich blickten sie in die Mündungen von Musketen und Tromblons. Gestalten tauchten hinter den Felsen und in den Höhlenöffnungen auf.
„Halt!“ sagte eine scharfe Stimme. „Die Hände hoch! Keine Dummheiten!“
„Die Bastarde“, sagte Delon und griff zur Pistole.
„Die Hurensöhne!“ Ventura ließ ebenfalls die Hand auf den Griff seiner Waffe fallen.
Hasard und seine Männer traten auf sie zu, alle hatten die Finger am Abzug.
„Noch eine Bewegung, und ihr seid erledigt“, sagte Hasard.
Ventura versuchte es dennoch, die Pistole aus dem Gurt zu reißen. Aber Gary Andrews, der ihm am nächsten war, schnellte auf ihn zu und riß ihn vom Maultier. Das Maultier schnaubte und schlug mit den Vorderhufen auf den Fels. Ventura stürzte zu Boden und auf den Bauch.
Gary drückte ihm das Knie gegen den Rücken, nahm ihm die Pistole ab und untersuchte ihn. Er hielt ihn dabei mit der Waffe in Schach. Ventura unternahm jedoch nicht mehr den geringsten Versuch, Widerstand zu leisten.
Auch Delon gab auf. Er ließ sich entwaffnen und fesseln. Er sah ein, daß es keinen Sinn hatte, gegen diese schwerbewaffneten, zu allem entschlossenen Männer aufzubegehren. Sie würden nicht zögern, sie zu töten.
Ventura wurde auch gefesselt. Jean Ribault durchsuchte Delon und förderte das Schreiben zutage, das der Bürgermeister von Potosi an seinen Amtskollegen in Arica gerichtet hatte.
„Sieh mal, was wir da haben!“ rief er Hasard zu. „Wollen wir wetten, daß es kein Liebesbrief ist?“
Hasard sah sich das Schreiben genauer an. „Es trägt das Amtssiegel des Bürgermeisters von Potosi. Na, dann wollen wir doch mal nachschauen, was drinsteht. Achtung, Freunde, ich mache mich jetzt strafbar – vor dem spanischen Recht.“
Er brach das Siegel auf, rollte das Pergament auseinander und begann aufmerksam zu lesen. Carberry und Dan hielten bei den Gefangenen Wache, die inzwischen zu dem dicken Provinzgouverneur geschleppt worden waren, alle anderen traten zum Seewolf und blickten ihn gespannt an.
„Na?“ fragte Karl von Hutten. „Was steht drin? Daß wir alle zum Tode verurteilt sind?“
„Das sowieso“, entgegnete Hasard. „Wir sind Vogelfreie – Galgenstricke, Mörder, Räuber und Banditen. Aber aus den Zeilen hier geht weiter hervor, man solle in Arica so viele Soldaten wie möglich in Bewegung setzen, und auch aus Potosi würden so bald als möglich Soldaten aufbrechen, um die Banditen – uns – zu verfolgen.“
„Na, das ist ja fein“, sagte Ribault und rieb sich die Hände. „Dann haben wir ja bald wieder was zu tun.“
Don Ramón de Cubillo stieß einen Laut aus, der wie eine Mischung aus Zischen und Ächzen klang. Wütend blickte er die beiden gefangenen Aufseher an. „Ihr dämlichen Hunde! Hättet ihr nicht besser aufpassen können?“
„Du hättest auch besser aufpassen können, Dicker“, sagte Delon mit verächtlicher Miene. „Dann wären die Mine und die Münze nicht ausgeplündert worden, und auch der Pulverturm wäre nicht in die Luft geflogen.“
Japsend schnappte Don Ramón Luft. „Wie sprichst du mit mir, du Hurensohn? Ich verbitte mir …“
„Gar nichts“, fiel Ventura ihm ins Wort. „Du hast nämlich nichts mehr zu sagen.“
„Ich werde euch aufhängen lassen!“
„Paß auf, daß dir keiner den Kopf abschneidet“, sagte Delon spöttisch.
„Du bist deines Amtes enthoben, Fettwanst“, sagte Ventura höhnisch.
„Du bist kein Gouverneur mehr“, fügte Delon hinzu.
„Das scheint den Tatsachen zu entsprechen“, sagte der Seewolf. „Hört, was hier steht: ‚Sehr verehrter, hochwohlgeborener und durchlauchter Amtskollege von Arica, was die nun folgenden militärischen Aktionen betrifft, so halte ich es für richtig und angebracht, auf einen Umstand von Bedeutung hinzuweisen. Es ist absolut vordringlich, die fremden Banditen, die sich erdreistet haben, Potosi zu überfallen und somit den König von Spanien zu berauben, zu liquidieren – koste es, was es wolle. Somit ist keinesfalls angebracht, bei der Expedition sonderliche Rücksicht auf Don Ramón de Cubillo zu nehmen. Die Banditen haben ihn zwar als Geisel genommen, doch sie werden ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits umgebracht haben oder umbringen.‘“
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