Sie warteten nicht, bis die Masten an der Kimm verschwunden waren. Hasard trieb die Männer an. Vielleicht schafften sie es, noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder auf der „Isabella“ zu sein.
Der Abstieg bereitete ihnen weniger Mühe als der Aufstieg. Die letzte Strecke konnten sie das Boot auf dem weichen Sand hinunterrutschen lassen.
Hasard ging mit Dan O’Flynn voraus, während Valdez sich seitlich in die Büsche geschlagen hatte, um die Gegend zu kontrollieren.
Dan O’Flynn entdeckte die Spuren als erster.
Er blieb stehen und wies stumm auf die großen Fußabdrücke im noch feuchten Sand.
Hasard war sofort klar, was das bedeutete. Die Spuren konnten nicht älter als höchstens drei Stunden sein.
„Da!“ sagte Dan heiser.
Hasard folgte seinem Blick. Er sah die drei Auslegerboote, die weit den Strand hinaufgezogen worden waren und zur Hälfte von dem Gebüsch zwischen den Palmen verborgen wurden.
Zweige knackten, und dann teilten sich die Büsche.
Hasard ließ seine Muskete wieder sinken.
Valdez tauchte bei den Booten auf. Er winkte Hasard zu. Hasard befahl den Männern, das Boot weiter zum Wasser hinunterzutragen und sich eine Verteidigungsstelle aufzubauen. Dann lief er zu Valdez hinüber.
„Wie viele sind es?“ fragte er keuchend, als er den Spanier erreicht hatte.
Valdez hob die Schultern. Seine Haut hatte eine ungesunde Färbung angenommen. Er nickte Hasard zu und ging zurück in die Büsche. Hasard folgte ihm. Sie gelangten auf eine kleine Palmenlichtung.
In der Mitte des hellen Sandes, der die ganze Lichtung bedeckte, befand sich ein großer schwarzer Fleck, von dem einzelne Rauchfäden aufstiegen.
Hasard spürte, wie seine Lippen trocken wurden.
Er starrte auf die hellen Gebeine, die neben der Feuerstelle lagen. Es gab keinen Zweifel. Hier hatten Kannibalen einen Festschmaus abgehalten.
„Ich habe mir die Spuren angesehen“, sagte Valdez heiser. „Es sind mindestens zehn Kannibalen und nach den Knochen zu urteilen, haben sie drei Menschen gefressen.“
Hasard sah die Fußknochen und nickte. Die Schädel der Opfer fehlten.
„Wir müssen zurück zu den anderen“, sagte er. „Wahrscheinlich haben die Kannibalen uns schon gesehen, wagen aber noch nicht, uns anzugreifen.“
Valdez nickte. Er schien froh zu sein, diesen Ort des Grauens verlassen zu können. Immer wieder schaute er sich um, doch nirgends war eine Bewegung zu sehen.
Die Männer beim Boot hatten ihre Waffen in den Händen. Carberry winkte und wies auf das Wrack. Hasard und Valdez liefen auf sie zu. Sie drehten sich nicht mehr um, denn sie wußten, daß die anderen ihnen Feuerschutz geben würden.
Die Männer beim Boot blickten ihnen grinsend entgegen, aber als sie Hasards ernstes Gesicht und den bleichen Valdez sahen, merkten sie, daß die Gefahr größer war, als sie gedacht hatten.
„Habt ihr was gefunden?“ fragte Carberry.
„Wir sind auf einer Kannibaleninsel“, sagte Valdez. Seine Stimme klang belegt. „Für die Kerle ist diese Insel heilig. Sie wohnen nicht hier. Es ist für sie eine Art Kultstätte. Sie kommen nur hierher, um ihre schaurigen Festmahle abzuhalten.“
Caberry wandte mit einem Ruck den Kopf.
„Dort vorn neben dem Vorschiff des Wracks liegt eines von den Eingeborenenbooten“, sagte er grimmig. „Vielleicht schnappen uns die Kerle die besten Sachen vor der Nase weg.“
Hasard blickte zum Riff hinaus. Er mußte die Augen zusammenkneifen, aber dann sah auch er das kleine Auslegerboot, das an der aus dem Wasser ragenden Vorschiffreling festgebunden war.
„Bringt das Boot zu Wasser“, sagte Hasard. „Wir pullen zu fünft hinüber. Vier Mann bleiben hier. Versucht, einen Wall aus Sand aufzuwerfen, hinter dem ihr Deckung finden könnt, wenn ihr von den Palmen her angegriffen werdet.“
Hasard ließ Stenmark, Buchanan, Carberry und Valdez zurück. Die anderen schoben das Boot ins seichte Wasser und stiegen ein. Batuti, Sam Roskill, Matt Davies und Dan O’Flynn setzten sich an die Riemen, Hasard nahm die Pinne in die Hand. In der Linken hielt er eine Pistole.
Mit jedem Schlag näherten sie sich dem Wrack, das fast zweihundert Yards weit draußen auf dem Riff lag. Je näher sie kamen, desto deutlicher hörten sie das Knarren und Knirschen des Rumpfes. Es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis das Wrack vollends auseinanderbrach.
Der Wind blies ziemlich kräftig von See. Es war Hasard, als hätte er einen Schrei gehört, aber dann blickte er auf und sah ein paar Seevögel über sich kreisen.
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er meinte zu spüren, daß sich ihm die Nackenhaare auf stellten. Zum zweitenmal an diesem Tag, hatte er das Gefühl, einen großen Fehler zu begehen.
Aber es gab kein Zurück mehr.
Sie waren nur noch knapp fünfzig Yards von dem Wrack entfernt. Wie sollte er es seinen Männern erklären, wenn er jetzt befahl, das Boot zu wenden?
Er schüttelte unwillig den Kopf und preßte die Lippen aufeinander. Wahrscheinlich hatte ihn der Anblick der abgenagten Menschenknochen geschockt.
„Halt!“
Hasards Stimme klang schneidend. Die Männer, die mit dem Gesicht zum Strand im Boot saßen, ließen die Riemen fahren und griffen nach ihren Waffen. Das Boot trieb ein wenig ab, und so konnten sie sehen, was auf dem Wrack geschah, ohne den Kopf zu wenden.
Die beiden Eingeborenen waren genauso überrascht wie sie. Es war ihnen anzusehen, daß sie mit allem gerechnet hatten, aber nicht mit dem Auftauchen von Fremden von der Insel her. Hasard sah, wie der eine von ihnen zu den anderen Booten am Strand hinüberblickte.
Sie waren nackt. Nur um die Handgelenke und die Fußfesseln hatten sie sich kleine Federbüsche gebunden.
Der eine hielt den abgetrennten Kopf eines bärtigen Weißen in seiner linken Hand, der andere hatte den Leichnam aufs schräggestellte Deck gezerrt.
Die Männer stöhnten auf, als sie sahen, daß dem Leichnam nicht nur der Kopf, sondern auch die unteren Teile der linken Gliedmaße fehlten.
Der Kannibale mit dem Kopf seines Opfers hatte seine Überraschung als erster überwunden. Er warf die langen schwarzen Haare in den Nakken und stieß ein durchdringendes Geheul aus.
Der andere hatte plötzlich einen Schädelbrecher in der Hand. Er ließ den verstümmelten Leichnam los und lief zu dem Auslegerboot hinüber, das sie an der Achterdeckreling angebunden hatten.
Hasard warf einen Blick zurück zum Strand, aber dort rührte sich immer noch nichts.
„An die Riemen, Männer“, sagte er heiser. „Wir müssen die beiden lebendig fangen. Vielleicht können wir sie als Geiseln benutzen und einen Kampf mit den Kannibalen vermeiden.“
Die Männer legten ihre Waffen wieder hin und griffen nach den Riemen.
Hasard behielt den Eingeborenen im Auge, der zum Boot hinüberturnte. Er hatte geglaubt, daß der Kannibale die Absicht hatte, mit dem Auslegerboot zu fliehen, doch als er es erreichte, bückte er sich und hielt plötzlich einen Bogen und einen Pfeil in den Händen.
Inzwischen hatte auch der zweite Kannibale das Auslegerboot erreicht. Er hatte den Kopf seines Opfers mitgenommen und warf ihn nun in den schmalen Rumpf des Bootes. Auch er bückte sich.
Hasard konnte nicht länger warten. Der erste Eingeborene hatte bereits den Pfeil auf die Bogensehne gelegt und zielte auf die Rücken der Männer, die das Boot mit kräftigen Schlägen dichter an das Wrack heranbrachten.
Die Pistole in Hasards Hand krachte. Eine Pulverdampfwolke nahm ihm die Sicht, aber er wußte, daß er getroffen hatte. Er beugte sich sofort vor und griff nach einer anderen Pistole.
Er hörte ein seltsames Pfeifen, dann klatschte etwas hinter ihm ins Wasser. Der andere Kannibale war schneller gewesen, als Hasard vermutet hatte.
Hasard zielte ruhig. Er wußte, daß es ihnen von großem Nutzen sein konnte, wenn sie wenigstens einen Eingeborenen als Geisel hatten, aber er wollte das Risiko nicht eingehen, daß einer seiner Männer von einem Pfeil getroffen wurde.
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