Don Juan starrte auf die Karte, und seine Miene hellte sich auf. Ganz ohne Ironie sagte er: „Man muß nur nachdenken, wie?“
„Richtig, aber vor allem muß man das an Informationen auswerten, was man zur Verfügung hat – bei de Figuieras Hinweis auf den Frauenraub der Niederländer haben wir geschlafen. Genauso haben wir nicht an die Auslegerboote der Badjao gedacht, an die Möglichkeit, daß die Kerle mit diesen Booten verschwinden könnten. Im Grunde haben sie zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Das lag so nahe, und wir waren …“
„… vernagelt“, unterbrach Don Juan.
„Mächtig vernagelt.“ Hasard nickte. „Aber laß mich noch mal nachdenken. Zwischen Kap Tinaka und den Sangi-Inseln liegt eine Strecke von etwa einhundertfünfzig Meilen über See. Würdest du die mit Einmast-Schaluppen oder Auslegerbooten befahren?“
Don Juan wiegte den Kopf. „Bei den Auslegern hätte ich Bedenken, weil ich die Dinger zu wenig kenne. Mit einer Einmast-Schaluppe würde ich mir das zutrauen. Bei günstigem Wind wäre das eine Reise von vierundzwanzig Stunden – etwa. Ja, das ist zu schaffen. Warum hast du gefragt?“
„Na ja, ich dachte an den Aktionsradius von Schaluppen und daran, daß der ja nicht unbegrenzt ist. Anders ausgedrückt: Aus Sicherheitsgründen würde ich ihn soweit wie möglich begrenzen. Daraus könnte man folgern, daß die Niederländer auf den nördlichsten Inseln der Sangi-Gruppe einen Stützpunkt haben. Damit wären sie noch näher an Mindanao dran.“
„Stimmt“, sagte Don Juan, „und am allernächsten sind sie Mindanao, wenn sie sich auf den Sarangani-Inseln niedergelassen haben.“ Er tippte auf die beiden Inseln vor der Südspitze von Mindanao, die fast nebeneinander lagen. Die westliche größere Insel hieß Balut, die längliche östliche, nach der die Inseln ihren Namen hatten, Sarangani. Von diesen Inseln war es hinüber nach Mindanao lediglich ein „Katzensprung“, gemessen an der 150-Meilen-Entfernung zu den Sangi-Inseln. „Jedenfalls sollten wir zuerst dort nachsehen“, fügte Don Juan hinzu, „bevor wir die nördlichen Sangi-Inseln ansteuern.“
„Kein Einwand“, sagte Hasard, „obwohl ich meine, daß es unseren Badjao hier nicht verborgen geblieben wäre, wenn sich die Kerle auf den Saranganis niedergelassen hätten. Aber in Ordnung, wir fangen dort mit der Suche an. Jetzt verklare bitte unserem alten Freund, daß wir versuchen wollen, ihm die acht entführten Frauen zurückzubringen, was bedeutet, daß die Familien hierbleiben müssen.“
„Wieso soll ich ihm das verklaren?“
„Du bist so gut in der Zeichensprache“, sagte Hasard grinsend. „Wie du ‚junge Frau‘ dargestellt hast, war große Schauspielkunst. Du bist der geborene Mime!“ Und damit verneigte sich Hasard vor Igna, rollte die Karten zusammen und ließ den verdutzten Don Juan zurück.
So war denn Don Juan der letzte der Mannen, der den Strand verließ und zu den Schiffen übersetzte. Dort hatte inzwischen Hasard den Waldschrat aus der Vorpiek holen lassen, was Carberry zusammen mit Smoky und Matt Davies besorgte.
Zwar hatte Hasard erwartet, daß es mit dem Muskelmonster Krach geben würde, aber dem war nicht so. Und warum nicht? Ganz einfach! Carberry hatte dem Kerl den Leibriemen weggenommen, nachdem er festgestellt hatte, daß dem die Hose im Bund ziemlich lose saß. Somit war der Schrat gezwungen, die Hose mit den Unterarmen an die Hüften zu klemmen. Seine Hände blieben dabei gefesselt. Wenn der Kerl nicht mit rutschender Hose und im Hemd herummarschieren wollte, mußte er die Hose festhalten. Und das tat er – mit verbissener Visage. Er sah nicht nach Zuckerlecken aus.
Die Arwenacks feixten, als sie sahen, welchen Trick Carberry angewandt hatte. Und sicher, wenn sie’s recht bedachten, würden sie in einem solchen Fall auch lieber ihre Hose festhalten, als mit rutschender oder ohne herumzulaufen.
„Zur Stelle mit dem Kerlchen, Sir!“ meldete Carberry dröhnend und schubste den Schrat in die Nähe der Achterdecksbalustrade. „Du siehst, er ist außer Gefecht. Wenn er zulangt, steht er im Hemd, und das möchte er nicht. Da ist er eigen, weil er sehr genau weiß, daß Männer im Hemd nur halbe Portionen sind. Möchtest du ihn verhören, Sir, oder hat er jetzt Ausgang?“
„Stell ihn ans Schanzkleid, Ed“, sagte Hasard. „Er soll sehen, was seine Kumpane bei den Badjao angerichtet haben. Ich möchte, daß er die Toten sieht.“
„Aye, Sir.“ Mit ein paar Püffen dirigierte Carberry den Schrat ans Schanzkleid der „Santa Barbara“. „Schau gut hin, du Hundesohn“, knurrte der Profos. „Es ist das Werk deiner Genossen – Mord an friedlichen Leuten, die euch nichts getan haben!“
Der Waldschrat spuckte über Bord.
Carberry schaute zu Hasard hoch. „Was sagst du dazu, Sir?“
Hasard flankte über die Balustrade, setzte geschmeidig auf der Kuhl auf, trat zu dem Kerl, riß ihn zu sich herum und fragte: „Wo habt ihr euren Stützpunkt?“
Die Antwort war wiederum Spucke, aber sie traf nicht, weil Hasard zur Seite geglitten war.
„Schnall ihm den Riemen wieder um, Ed!“ befahl er.
Carberry tat es, zog ihm aber die Schnalle auf dem Rücken zu, um nicht vor den Kerl treten zu müssen, der schlimmer als ein spuckendes Lama war.
„Ben! Einen Degen!“ rief Hasard zum Achterdeck hoch, zog seinen eigenen Degen und fuhr den Schrat an: „Streck die Hände vor, du Bastard!“
Der verstand sehr genau die englische Sprache und hielt Hasard die Hände hin. Hasard zertrennte die Fesseln, fing von Ben einen Degen auf und warf ihn dem Schrat zu.
„Jetzt zeig mal, ob du noch mehr kannst als spucken, du mieser holländischer Strolch!“ zischte er.
Der Schrat stieß ein röhrendes Gebrüll aus und stürmte vor wie ein blindwütiger Stier – und schon prallte er krachend auf die Planken. Hasard war zur Seite getreten, blitzschnell, hatte aber den rechten Fuß stehen lassen und hochgerissen.
„Kuhl räumen!“ rief er.
Die Arwenacks verschwanden aufs Vordeck und Achterdeck.
Der Schrat war wieder auf den Beinen, jetzt etwas geduckt und lauernd. Offenbar hatte er begriffen, daß dieser Gegner schnell reagierte, sehr schnell sogar. Dem mußte man anders beikommen. Daß ihn dieser Gegner eben geschont hatte, als er gestürzt war, das registrierte Marten de Groot nicht.
Langsam, in kurzen Schritten, rückte er zur Nagelbank des Großmastes vor, den rechten Arm mit dem Degen leicht angewinkelt, aber immer in Bewegung wie eine züngelnde Schlange. Und er grinste, als er sah, daß der Gegner schrittweise zurückwich.
Jetzt stand Marten de Groot neben der Nagelbank. Plötzlich hatte er wie durch Zauberei einen Belegnagel in der Linken und schleuderte ihn auf den Gegner.
Vorbei! Wieder war Hasard schneller gewesen – und er reagierte auf seine Art. Ein unheimlich scharfer Hieb mit der Flachklinge klatschte auf die Hand, die den Belegnagel geworfen hatte.
Der Schrat jaulte auf wie ein getretener Hund.
„Versuch’s ruhig noch mal!“ höhnte Hasard. „Aber dann hack’ ich dir die Hand ab, Holländer!“
Und dann griff er an – ein entfesselter Tiger.
Es dauerte nur knappe fünf Minuten, da wußte Marten de Groot, daß sein Lebensfaden mit rapider Geschwindigkeit dünner wurde. Mit einem Bein stand er bereits in der Hölle, da machte er sich gar nichts vor. Für ihn war das Paradies nicht geöffnet.
Er sah aus wie Hackfleisch. Das Blut rann ihm aus unzähligen Wunden, seine Hand am Degen war glitschig – schlimmer noch, er brachte den Degen kaum noch hoch. Er war fertig.
Keuchend lehnte er schief am Schanzkleid und sah rote flirrende Kreise vor seinen Augen. Aus den Kreisen wurde die Spitze einer Degenklinge. Sie näherte sich, berührte sein Kinn, glitt etwas tiefer – und jetzt verharrte sie auf seiner Kehle.
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