Der Kutscher säuberte behutsam die Messerwunde, bestrich sie mit einer kühlenden Wundsalbe und legte einen Verband an. Die Frau zuckte mit keiner Wimper, aber sie schaute ihn dankbar an.
Der Kutscher nickte ihr lächelnd zu und kehrte zu Hasard zurück. Da war sein Gesicht wieder ernst.
Er sagte: „Mir ist etwas aufgefallen, Sir.“
„Und was?“
„Hier sind Jungen, junge Männer, Männer in den besten Jahren und alte Männer. Gleiches gilt für die Frauen – mit einer Ausnahme: Ich habe nicht eine einzige junge Frau entdeckt.“
Hasard spürte ein Frösteln, das ihm über den Rücken lief. Er schaute zu den aufgereihten Toten. Nein, dort entdeckte er auch keine junge Frau.
„Du meinst …“, sagte er und sprach nicht weiter.
„Aye, Sir, genau das meine ich“, sagte der Kutscher hart. „Diese Strolche haben die Mädchen und jungen Frauen geraubt.“
Was hatte Capitán de Figuiera gesagt, als sie bei ihm in der Kommandantur saßen? Er hatte gesagt, daß die Badjao sehr hübsche Frauen hätten – begehrte Lustobjekte für diese holländischen Kerle. Hasard knirschte mit den Zähnen – und fühlte sich hilflos. Verdammt, wo sollte er diese Mörder und Frauenschänder aufspüren – wo, wo?
Er rief Don Juan heran, der bei einer Gruppe von vier jungen Männern stand und ihnen – wie vorher Carberry – die Handhabung der Axt erklärte.
„Ja?“ fragte er und blickte in das finstere Gesicht Hasards.
„Die Kerle haben die jungen Frauen geraubt“, sagte Hasard. „Dem Kutscher ist das aufgefallen, und es stimmt, hier sind nur kleine Mädchen und ältere Frauen. Du weißt, was der Capitán in Davao uns berichtete.“
Don Juan blickte sich um, und seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich. Dann schaute er Igna an, der sie bereits beobachtete, sehr aufmerksam und auch fragend.
Er wies zu einem kleinen Mädchen, das etwa acht Jahre alt sein mochte. Es war nackt, bis auf eine Muschelkette um den Hals, ein schlankes Kind mit hübschem Gesicht und dunklen, warmen Augen, die zu ihm hochschauten. Dann trat er zu ihr und legte ihr die Hand auf den Kopf, hob aber die Hand und deutete damit an, daß das Mädchen jetzt größer geworden sei – so groß wie eine junge Frau, die mit dem Wachstum auch ihre weiblichen Formen angenommen hat.
Dann schwenkte Don Juan die Hand zu den älteren Frauen, schüttelte verneinend den Kopf, zuckte mit den Schultern und zeigte wieder über dem Kopf des kleinen Mädchens die andere Körpergröße an, jene einer jungen Frau. Und er blickte sich erneut um und schüttelte den Kopf. Und dann schaute er Igna fragend an.
Igna hatte die Zeichensprache verstanden. Der große, schlanke Fremde mit den grauen Augen und dem festen Kinn wollte wissen, wo die Frauen seien, die keine kleinen Mädchen mehr waren, aber auch noch nicht alte Frauen.
Er nickte und winkte Don Juan an den Sandstrand. Hasard und der Kutscher folgten. Igna hockte sich hin, glättete den Sand und zeichnete mit dem Finger geschickt drei Boote in den Sand, Auslegerboote mit einem vorderen Dreibeinmast und etwa mittschiffs einem einzelnen Mast. Und über die drei Boote zeichnete er unverkennbar acht Frauen, die er mittels Strichen mit den Booten verband.
Dann stand er wieder auf, deutete auf die Zeichnung und wies nach Süden. Zur Bekräftigung seiner Zeichnungen zeigte er die linke Hand mit den fünf ausgespreizten Fingern, und daneben hielt er die rechte Hand mit Daumen, Zeigefinger und Ringfinger und deutete mit beiden Händen wieder südwärts.
„Acht Frauen“, sagte Don Juan. „Und die Hunde sind mit drei Auslegerbooten nach Süden abgehauen. Soweit dürfte das klar sein.“
„Nur – wohin?“ sagte Hasard, wandte sich zu Carberry um und setzte hinzu: „Ed, pull zur ‚Santa Barbara‘ hinüber und laß dir von Ben die Karten vom Golf und den Inseln hier im Süden geben.“
„Aye, Sir.“ Carberry wuchtete die Jolle ins Wasser, sprang hinein und zog mit kräftigen Schlägen ab.
„Du glaubst, er begreift unsere Karten?“ fragte Don Juan.
„Wir müssen es zumindest versuchen“, erwiderte Hasard. „Er ist ein kluger Mann. Vielleicht weiß er, wohin sich dieses Lumpenpack verzogen hat, und kennt deren Stützpunkt.“
„Acht Frauen“, wiederholte Don Juan noch einmal, und es klang wie ein Knurren. „Und wir beschleichen inzwischen ein verlassenes Lager. Zu diesem Zeitpunkt sind diese Bastarde über die Badjao hergefallen, haben sich Boote besorgt, hier gemordet und die Frauen geraubt. Warum haben wir nicht an diese Möglichkeit gedacht? Wir sind doch hier vorbeigesegelt und haben die Auslegerboote gesehen, verdammt noch mal! Und dann erzählt uns de Figuiera noch, daß die Kerle Frauenraub betreiben. Wir hätten das ins Kalkül ziehen müssen, aber wir haben’s nicht getan. Wie Stümper haben wir uns aufgeführt.“
„Hör auf mit den Selbstvorwürfen“, sagte Hasard. „Es ist passiert und nicht mehr zu ändern. Wenn ich noch vor ein paar Stunden erwog, die Aktion abzubrechen – in der Ansicht, wir hätten genug getan –, dann kannst du dich jetzt darauf verlassen, daß ich nicht aufgebe, und wenn ich die ganzen Inseln umkrempeln muß!“
Carberry brachte die Karten. Hasard breitete sie aus, legte sie auf den Boden und beschwerte die Ränder mit Steinen. Interessiert beugte sich Igna vor und betrachtete die Karten. Hasard ordnete sie nach der Kompaßrose ein, nahm ein Stöckchen und fuhr mit ihm von Norden nach Süden die westliche Küstenlinie ab bis etwa zu dem Punkt, an dem sie sich befanden und jetzt die drei Schiffe ankerten. Dort legte er ein kleines Steinchen hin, zeigte zu den verbrannten Stummeln der Pfosten und wieder auf das Steinchen.
Igna schien zu begreifen. Mit dem Zeigefinger wies er auf den spanischen Stützpunkt im Norden des Golfes und sagte deutlich: „Da-vao.“ Dann zeigte er auf das Steinchen und sagte: „Badjao.“
Hasard und Don Juan nickten bestätigend.
Jetzt deutete Hasard auf die drei Auslegerboote, die Igna in den Sand gezeichnet hatte, und dann auf die Karte, wo das Steinchen lag. Neben das Steinchen legte er drei dünne Holzspänchen in die Südrichtung und schob sie langsam weiter. Fragend blickte er Igna an.
Igna nickte. Er hatte verstanden, daß der große Mann mit den eisblauen. Augen seine drei Balanghais meinte, mit denen die Teufel davongesegelt waren.
Wohin, nicht wahr?
Igna nahm die drei Spänchen, bewegte sie an der Küste der Karte entlang nach Süden bis zum Kap Tinaka, der südlichsten Spitze von Mindanao, und schüttelte den Kopf, was bedeuten sollte, an der Westküste des Golfes bis hinunter zum Kap seien die fremden Teufel nicht anzutreffen. Dann ließ er ein Spänchen nach Westen „segeln“, eins nach Süden und das dritte nach Südosten, schaute zu Hasard und Don Juan hoch und zuckte hilflos mit den Schultern, um auszudrücken, daß dies alles sei, was er wisse.
„Erfolg gleich null“, sagte Don Juan enttäuscht.
„Nicht ganz“, entgegnete Hasard, „denn zumindest steht fest, daß wir die Westküste bis zum Kap hinunter bei der Suche ausklammern können. Das ist besser als gar nichts.“
„Schöner Trost“, murmelte Don Juan gallig.
„Oh, ich habe noch mehr Trost für dich“, sagte Hasard. „Ich klammere bei der Suche nämlich auch den ganzen Westbereich aus, und zwar deswegen, weil Capitán de Figuiera von den Gewürzschiffen sprach, die von den Molukken herauf nach Davao segeln und bereits von den Niederländern angegriffen und geentert wurden. Daraus folgert eindeutig, daß sich die Kerle an einem Punkt festgesetzt haben müssen, von dem aus sie die von den Molukken herauf segelnden Schiffe kontrollieren können – zum Beispiel hier!“ Hasard tippte auf den Bereich der Sangi-Inseln, jenen Inseln, die fast genau in der Mitte zwischen dem nördlichen Kap von Celebes und dem südlichen Kap von Mindanao, dem Kap Tinaka, lagen. Er zog auf der Karte einen imaginären Kursstrich von den Molukken hinauf nach Davao. „Der Kurs der Schiffe führt an den Sangi-Inseln vorbei“, sagte er. „Dort würde ich mich festsetzen, wenn ich das betreiben wollte, was die Mijnheers tun. Alles klar?“
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