Und jeder – vom Seewolf bis zum Jüngsten – hatte nur den einen Wunsch, daß der Wind noch einmal kräftig zulegen möge. Aber der handige Geselle tat ihnen den Gefallen nicht. Sie mußten Sekunden und Minuten in ohnmächtiger Tatenlosigkeit verstreichen lassen.
Die Kerle im Beiboot des Zweimasters bemerkten die heranrauschende Schebecke nicht sofort. Zu sehr waren sie offenbar von der Vorfreude auf die grausige Hinrichtung erfüllt.
Aus dem grellen Licht der Sonne heraus stieß der Seewolf auf Struzzo und seine Schergen zu.
Sie sahen, wie der Don und sein Rechtsberater Cóstola auf der Achterducht zusammenzuckten.
Blacky stand auf der Bugplattform und schien keinerlei Hoffnung mehr zu hegen.
Deutlich war zu sehen, wie der glatzköpfige Kerl mit dem nackten Oberkörper die Muskeln anspannte. Er wartete auf das Zeichen Don Marcellos, die Exekution durch einen raschen Stoß durchzuführen.
Noch fünfhundert Yards trennten den Dreimaster vom Beiboot. Querab südlich, auf dem Zweimaster, war hektische Bewegung zu erkennen. Keine Frage, daß auch dort Gefechtsbereitschaft hergestellt wurde.
Don Marcello wartete mit dem entscheidenden Befehl.
Seine Absicht war deutlich.
Er würde die Hinrichtung so lange wie möglich hinauszögern, um einen Angriff der Arwenacks dadurch zu verhindern.
Hasard ließ die Schebecke weiter unter Vollzeug laufen.
Noch vierhundert Yards.
Eine gellende Stimme war aus dem Beiboot zu hören.
„Verschwindet, ihr Bastarde! Verschwindet, oder er stirbt auf der Stelle!“
Spätestens in dieser Minute mußte Struzzo begriffen haben, daß Blacky nicht der vermeintliche Todesbote seines Erzfeindes war.
Noch dreihundert Yards.
Hasard verständigte sich rasch mit Ben Brighton. Was zu tun war, stand für den Seewolf jetzt fest. Er konnte Struzzos Verhalten vorausberechnen. Der Don würde es bis zum letzten Moment hinauszögern, um die Gefahr von sich abzuwenden.
Noch zweihundert Yards.
Hasard lief auf das Hauptdeck und stieg aus den Stiefeln. Er streifte die Lederweste und das Hemd ab und behielt nur das Entermesser am Gurt. Auf sein Handzeichen hin lief Ferris Tucker los und verschwand in der vorderen Luke, um die Ausrüstung für den Seewolf zu besorgen.
Struzzos schriller Befehl hallte weit über das Wasser.
Der Henkersknecht stieß die Felsbrocken nach Backbord von der Bugplattform.
Blacky wurde mitgerissen. Indem er den Oberkörper zur Seite krümmte, konnte er eben noch verhindern, daß er mit dem Kopf auf das Dollbord schlug. Er pumpte die Luft tief in seine Lungen, obwohl er nicht glaubte, daß es ihm noch etwas nutzte.
Struzzo hatte ihm die Augenbinde abnehmen lassen – in letzter Sekunde noch. Blacky wußte, daß es aus reiner Bosheit geschehen war. Er sollte mitkriegen, wie seine Gefährten vergeblich versuchten, ihn zu retten.
Das Wasser schlug über ihm zusammen.
Was sollten Hasard und die anderen noch für ihn tun? Was konnten sie noch für ihn tun?
Die Zentnergewichte der Felsbrocken zogen ihn in die Tiefe. Rasch schwand die Helligkeit des Sonnenlichts, die unter der Wasseroberfläche noch stark und strahlend war.
Blacky konnte die Schebecke in ihrer rauschenden Fahrt hören. Durch die starke Fortpflanzung des Schalls erschien es ihm, als jage der Dreimaster direkt über ihn hinweg. Doch er wußte, daß es eine Täuschung war. Er war in diesen letzten Sekunden, vielleicht Minuten seines Lebens so mutterseelenallein wie nie zuvor.
Die Helligkeit, die ihn nun umgab, war nur noch trübe.
Die Felsbrocken zogen ihn tiefer und tiefer.
Ein anderes Geräusch mischte sich in das Rauschen der dahinjagenden Schebecke.
Es war das peitschende Eintauchen von Riemenblättern.
Blacky legte den Kopf in den Nacken. Er sah den Schatten des Beiboots, und die Riemenblätter verursachten beim Eintauchen kleine Explosionen von sonnenglitzernden Funken.
Weiter links entfernten sich die großen Umrisse der Schebecke.
Zu spät, dachte Blacky resignierend. Er spürte jetzt den zunehmenden Wasserdruck. Selbst wenn er noch für ein paar Minuten Atemluftreserve hatte, würde es ihm doch herzlich wenig nutzen. Durch die enorme Geschwindigkeit, mit der er sank, würde er bei immer stärker anwachsenden Druck rasch das Bewußtsein verlieren.
Hasard und die anderen hatten es versucht. Himmel, sie hatten es wenigstens versucht. Und fast geschafft. Ein Gefühl unendlicher Dankbarkeit durchströmte ihn.
Schleier begannen vor seinen Augen zu wallen. Er lehnte sich verzweifelt gegen das Schwinden seiner Sinne auf.
Plötzlich spürte er Boden unter den Füßen. Die Zentnerlast der Felsbrocken zerrte nicht länger an ihm. Die trübe Helligkeit war geblieben. Der Druck ließ ein Sausen in seinen Ohren entstehen. Die Luftreserve in seinen Lungen begann sich zu verringern. Dennoch sah er sich um.
Das Entsetzen packte ihn wie eine riesige Klaue.
Von dem algenbewachsenen Felsenboden erhoben sich sonderbare Gestalten, die von einer unterseeischen Strömung wie Pendel auf einer weichen Stahlfeder hin und her bewegt wurden. Es mußte auch diese in unerfindlichen Richtungen verlaufende Strömung sein, die den Gestalten Auftrieb verlieh.
Skelette!
Alle hingen an Felsbrocken wie er selbst.
Ein ganzer Wald von Skeletten umgab ihn.
Don Marcello Struzzos Opfer.
Die Schleier vor seinen Augen verstärkten sich. Seine Luft ging zur Neige. Er krümmte sich, um nach den Befestigungen der Ketten zu tasten. Eine lächerliche Annahme, sich auf diese Weise befreien zu können. Nein, es gab nichts mehr daran zu rütteln. Das Ende war nahe.
Blacky nahm sich vor, seine letzten Gedanken der munteren Gigliola zu widmen, die das Leben und die Liebe in vollen Zügen zu genießen verstand. Es hatte sich gelohnt, sie kennenzulernen. Und sie traf nicht die geringste Schuld daran, daß er auf diese erniedrigende Weise endete.
Er würde ein Teil des Skelett-Waldes werden, den Struzzo hier auf dem flachen Meeresgrund hatte wachsen lassen.
Ein Schatten glitt heran.
Blacky nahm keine deutlichen Konturen mehr wahr. Seine Umgebung verschwamm. Vielleicht hatten Haie die unterseeische Hinrichtungsstätte des Don als Freßplatz entdeckt, der von Zeit zu Zeit neu beschickt wurde.
Der Schatten war ein Mensch.
Blacky spürte behutsame Ohrfeigen, die ihn bei Bewußtsein halten sollten. Im nächsten Moment waren hell klingende Schläge zu hören.
Blacky sperrte die Augen weit auf. Im ersten Augenblick hielt er das Bild, das sich ihm bot, für eine Halluzination. War das eins von diesen Wunschbildern, die Ertrinkende angeblich haben sollten?
Der Seewolf, mit einem schweren Hammer und einem Meißel ausgerüstet, zerschlug das erste Kettenglied an der Eisenstange neben seinem rechten Knie. Hasard arbeitete schnell und geschickt. Das Kettenglied zersprang nach dem dritten Hieb. Er glitt um die Felsbrocken herum und schlug gleich darauf auf der anderen Seite zu.
Die Atemnot ließ ein dumpfes Gefühl in Blackys Brustkorb entstehen. Er hörte die scharfen Hammerschläge. Gleich darauf das schabende Geräusch der Eisenstangen, wie Hasard sie aus den Löchern in den Felsbrocken zog. Dann packte ihn der Seewolf. Rasend schnell ging es aufwärts, der strahlenden Helligkeit der Sonne entgegen.
Blacky blieb bei Bewußtsein. Als sie die Wasseroberfläche erreichten, war es das schönste Gefühl seines Lebens, tief durchatmen zu können und zu spüren, wie neue Spannkraft in alle Fasern seines Körpers zurückkehrte.
Ben Brighton hatte das Beiboot aussetzen lassen. Carberry und Ferris Tucker zogen Blacky hinein und durchtrennten seine Fesseln. Sie halfen auch dem Seewolf über das Dollbord.
Die Schebecke hatte in fünfhundert Yards Entfernung gehalst und näherte sich langsam.
Читать дальше