Er hielt inne und spähte durch eines der seewärtigen Fenster.
Der Wind hatte nachgelassen. Das vom Sonnenaufgang rötlich gefärbte Meer war spiegelglatt. Denkbar, daß ihm die Windstille die Ruhe eines kurzen Schlafes gewährt hatte.
Er hörte Schritte.
Stirnrunzelnd drehte er sich um und verharrte bewegungslos.
Es waren Schritte von mehreren Männern. Die Sohlen ihrer Schuhe oder Stiefel polterten über Holz.
Blacky blickte zu der Bohlentür der Turmkammer. Die Tür war nach außen zu öffnen. Anzunehmen, daß sich dort eine Holztreppe befand, die in winkligen Abschnitten an der Außenmauer des Turms emporführte.
Blacky überlegte nicht mehr. Er öffnete die runde Luke in der Mitte der Kammer.
Das Wasser in der Tiefe war ruhig, der Sonnenschein tauchte auch die Klippen in rötliches Licht. Wer dort unten landete, wurde zerschmettert, bevor er versank. Möglich, daß einer noch einen Rest Lebens in sich hatte, wenn er von den schroffen Felsen ins Wasser rutschte. In einem solchen Fall war der Betreffende mit gebrochenen Armen und Beinen aber nicht mehr in der Lage, sich schwimmend ans Ufer zu retten.
Die Schritte wurden lauter, deutlicher.
Blacky schlich sich auf die andere Seite der Kammer und stellte sich mit dem Rücken an die Wand, neben den Türrahmen.
Was sie auch vorhatten – er würde so viele wie möglich in den Tod schicken. Oder mitnehmen, was auch immer. Er hatte nur diese eine Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen: die offene Luke. Seine Gegner hatten ihm die Möglichkeit an die Hand gegeben, ohne zu ahnen, daß er sie nutzen konnte. Sie mußten angenommen haben, daß er wegen seines miserablen körperlichen Zustands nicht in der Lage sein würde, auch nur einen Finger zu rühren.
Die Schritte verlangsamten sich und mußten jetzt nahe vor der Tür sein.
Blacky spannte die Muskeln an. Er fror nicht mehr, die hämmernden Schmerzen im Schädel hatten nachgelassen.
Die Schritte endeten. Da draußen mußte es eine Plattform vor der Tür geben. Holz von Riegelbalken bewegte sich schabend. Dann wurde ein Schlüssel ins Schloß geschoben und knirschend herumgedreht.
Blacky hatte das Gefühl, daß seine Muskeln kurz vor dem Zerreißen waren.
Knarrend schwang die Tür auf. Helleres Licht fiel in einem sich vergrößernden Dreieck auf den Steinfußboden und bildete ein Rechteck, das bis zu der runden Lukenöffnung in der Mitte der Kammer reichte.
Der Mann beging den Fehler, einen Schritt über die Schwelle zu tun und dann erst stehenzubleiben, weil er den Gefangenen nicht sah. Die schußbereite Pistole des Mannes war einen halben Yard vor seinem Körper, im Hüftanschlag.
Blacky hieb ihm die Waffe weg, indem er seine Faust auf den Schießarm des Kerls schmetterte.
Der Mann schrie.
Blacky ließ ihm keine Zeit, sich von der Überraschung zu erholen. Blitzschnell, ehe der andere zurückweichen konnte, packte er zu. Seine Fäuste waren wie Eisenklammern. Und seinen Bärenkräften hatte der Sarde nur wenig entgegenzusetzen.
Während die Waffe noch über den Boden schlidderte, stolperte der Mann schon vorwärts.
Blacky ließ ihn rechtzeitig los und wich zurück.
Der Mann konnte den Schwung nicht mehr bremsen. Brüllend vor Entsetzen ruderte er mit den Armen, doch er fand nirgendwo Halt. Seine Füße tappten über den Rand der Luke hinweg – ins Leere. Sein Gebrüll steigerte sich zum Schrillen.
Einen Moment schien es, als könnte er sich am Lukenrand festhalten. Aber nur die linke Hand hatte noch Kraft. Mit der Rechten, gelähmt durch Blackys Hieb, glitt er ab.
Der Todesschrei gellte für lange Sekunden aus dem Turm und dem Felsenkamin herauf.
Ein dumpfer Schlag ließ Stille einkehren.
Blacky blickte auf die Spitze eines Säbels, der nahe vor seinem Gesicht war. Der Mann, der den Säbel hielt, hatte das Aussehen eines großen Raben.
Ein zweiter schob sich mit schußbereiter Pistole herein. Er war dunkelblond und hatte ein kantiges Gesicht, das unbändigen Zorn spiegelte. Gekleidet war er in schwarzgefärbtes weiches Leder, das wie Samt aussah.
„Ich bin Don Marcello Struzzo“, sagte er tonlos. „Hierzulande weiß man, was es bedeutet, sich auf so unverfrorene Weise gegen mich aufzulehnen. Dir sage ich es hier und jetzt, Engländer.“ Er hielt inne, um Luft zu holen. Seine Stimme bebte in mühsamer Beherrschung, als er weitersprach. „Du wirst einen hundertmal grausameren Tod sterben als der Mann, den du eben umgebracht hast. Aber vorher wirst du uns mit Freuden alles das verraten, was wir von dir wissen wollen.“
„Das glaube ich nicht“, entgegnete Blacky kalt.
Struzzo drehte die Pistole um und schmetterte ihm den Kolben gegen die Stirn.
Es war wie ein Blitz, der den Engländer fällte.
Mit Spiegeleiern und gebratenem Speck hatten der Kutscher und Mac Pellew ihren morgendlichen Beitrag zur Versöhnung geleistet. Die Zwillinge hatten in der Stadt frisches Brot eingekauft. Als Krönung des Ganzen gab es Kaffee. Die Bohnen, die aus der Türkei stammten, hatte der Kutscher in aller Frühe geröstet und dann gemahlen. Im Osmanischen Reich hatten die Arwenacks denn auch den Türkentrank kennen- und schätzengelernt.
„Daran kann man sich gewöhnen“, sagte Carberry, nachdem er einen vorsichtigen Schluck von dem brühheißen schwarzen Getränk genommen hatte.
„Das hebt einen drei Tage toten Seemann in die Stiefel“, erklärte Ferris Tucker grinsend.
„Und es öffnet dir die Klüsen sogar, wenn sie schwer wie Blei sind“, ließ sich Old Donegal Daniel O’Flynn vernehmen. „Die Türken schlürfen das Zeug immer dann, wenn sie noch oder schon wieder müde sind. Morgens, nachmittags, abends.“
„Damit sie ihre Suleikas beim Bauchtanz nicht verpassen“, sagte Batuti mit glucksendem Lachen.
Durch das offene Kombüsenschott beobachteten der Kutscher und Mac Pellew, wie die Zwillinge mit der dampfenden Kaffeekanne auf dem Hauptdeck hin und her eilten und gar nicht schnell genug nachschenken konnten.
„Gibt ihnen etwas, was möglichst bitter und unansehnlich ist, und sie werden begeistert sein“, sagte Mac Pellew mit sauertöpfischer Miene.
„Versuche, ihnen mit einer ausgefallenen Speise eine Freude zu bereiten, und sie werden so tun, als hättest du jeden einzelnen von ihnen persönlich beleidigt“, sagte der Kutscher und blickte seinen Mitstreiter an. „Daraus läßt sich eine einfache Folgerung ziehen: Koche immer das, was dir selbst zum Hals heraushängt, und du liegst goldrichtig!“
Mac Pellew nickte, und sein Gesicht verdüsterte sich. „Und da soll man noch von abendländischer Kultur sprechen! Der Verfall der Sitten, scheint mir, ist nicht mehr aufzuhalten. Bei der Eßkultur zeigt sich das doch zuerst.“
Seit er mit dem Kutscher in der Kombüse arbeitete, hatte er eine Menge gelernt, wobei der Kutscher wiederum von jenem Wissen profitierte, das er sich in den Jahren bei Sir Anthony Freemont in Plymouth angeeignet hatte.
Der Kutscher, dieser ernste und häufig etwas gestelzt sprechende Mann, hatte indessen auch an Bord der Schiffe des Seewolfs nie aufgehört, seine Allgemeinbildung zu vervollständigen. Nutznießer waren neben Mac Pellew vor allem die Söhne Philip Hasard Killigrews, denen der Kutscher neben ihrem Vater der denkbar beste Lehrmeister war.
Auf dem Achterdeck besprachen der Seewolf, Ben Brighton, Dan O’Flynn und Don Juan de Alcazar die einzelnen Positionen einer Liste, die Dan zusammengestellt hatte. Es ging um die Vorräte, die im Laufe dieses Tages eingekauft und an Bord geschafft werden sollten.
„Zehn Sack Mehl“, las Hasard kopfschüttelnd. „Nichts gegen die Nudeln, die der Kutscher uns vorgesetzt hat. Aber jetzt übertreibt er wohl doch ein bißchen.“
Die anderen lächelten.
„Die Zahl stammt noch von vorgestern“, erklärte Dan. „Da wußte er ja noch nicht, ob er mit seiner Pasta bei der Crew landet.“
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