Ein Hai war heran. El Tiburon tauchte, entging mit knapper Not den zuschnappenden Zähnen, drehte sich und gelangte auf diese Weise unter den Bauch des Mörders. Ein erprobter und wirkungsvoller Trick – der Hai war für wenige Atemzüge irritiert und verlor die Orientierung. Haie konnten schlecht sehen, sie richteten sich, wie El Tiburon annahm, mehr nach ihrer Witterung.
Zweimal stach El Tiburon mit seinem erbeuteten Messer zu, dann brachte er sich mit drei Schwimmzügen aus der Reichweite des getroffenen Tieres, das wild mit der Schwanzflosse um sich schlug. Aber die Gefahr war nicht gebannt. Zwei, drei Schatten huschten heran, angelockt von dem Blut des Artgenossen.
Vor dem einen Hai konnte El Tiburon gerade noch sein rechtes Bein in Sicherheit bringen. Um ein Haar wäre es in dem heranschnellenden, aufklaffenden Rachen verschwunden. El Tiburon schauderte es allein bei dem Gedanken, aber er durfte nicht die Nerven verlieren.
Wieder drehte er sich mehrfach im Wasser, aber der Hai folgte ihm. Aufs Geratewohl stach El Tiburon zu, und er hatte Glück. Er traf das Maul des Hais und glaubte auch, sein eines Auge verletzt zu haben. Bevor ihn die Bestie erneut angreifen konnte, schwamm er von ihr weg, tauchte kurz auf, schnappte Luft und arbeitete sich näher ans Ufer heran.
Der dritte Hai! El Tiburon sah seine Rückenflosse nahen und tauchte wieder unter. Im milchigen Wasser, das von den ersten grauen Schleiern des Morgens erhellt wurde, sah er den Gegner deutlich genug vor sich. Diesmal schaffst du es nicht, sagte er sich, und unwillkürlich schloß er die Augen.
Dann aber riß er sie wieder auf, ließ den Hai heranschießen und wich ihm erst in letzter Sekunde aus. Das Wasser bremste jede Bewegung, aber El Tiburon war ein guter Taucher und kannte alle Tücken und Hindernisse des nassen Elements. Er wand sich wie ein Aal und entging um Haaresbreite dem ersten Biß.
Der Hai drehte sich, aber El Tiburon war neben ihm und nutzte die Gelegenheit Zweimal traf das Messer, El Tiburon stieß den Hai mit den Füßen von sich weg, riskierte noch einen Biß, hatte dann aber genug Freiheit. Er schwamm tauchend zum Ufer und konnte sich retten, weil die anderen Haie jetzt über ihre Artgenossen herfielen.
El Tiburon langte unter einem Felsenüberhang am unwegsamen Ufer an. Hier konnten die Mörder ihn nicht mehr erreichen – weder die im Wasser noch die mit zwei Beinen, die oben an der Totenrutsche nach ihm Ausschau hielten. El Tiburon hatte Zeit, zu verschnaufen. Er hütete sich, jetzt schon nach oben zu klettern. Er wußte, daß Sarraux und Nazario dort lauerten.
So war es auch: Der Portugiese und der Bretone spähten immer noch ins Wasser. Aber sie hatten einen entscheidenden Denkfehler begangen. Sie nahmen an, El Tiburon wäre allein gewesen, als er den Hohlweg betreten hatte.
Pedro, der Kleine, war inzwischen nicht untätig gewesen. Er hatte vergeblich auf seinen Partner gewartet und schließlich die anderen Männer alarmiert, die die Insel nach den Gesuchten abforschten.
Einer der Siedler von El Triunfo war sicher, auf dem Felsen der Totenrutsche eine Bewegung bemerkt zu haben. Der Rest ergab sich: Ein Trupp von zornigen Männern unter der Führung von Carlos Rivero tauchte in diesem Moment auf der Steilklippe auf – hinter dem Rücken der beiden Spione.
Sarraux und Nazario wandten sich erst um, als sie die Hähne von Musketen und Pistolen hinter sich knacken hörten. Entsetzt blickten sie auf die Gruppe von etwa zwanzig Männern, die sich auf dem Felsen versammelt hatte. Drohend waren die Waffen auf sie gerichtet.
„Wagt nicht, zu den Waffen zu greifen“, sagte Carlos. „Es wäre euer Tod.“
„Was wollt ihr von uns?“ fragte Sarraux mit scheinheiliger Miene. „Wir sehen uns hier nur die Gegend an. Ist das verboten?“
„Gib dir keine Mühe“, sagte Pedro. „Wir wissen alles. Ihr habt Esther umgebracht. Wo ist El Tiburon?“
„Wer ist denn das?“ fragte Nazario.
„Abführen, die Kerle“, sagte Carlos. „Wir unterhalten uns in der ‚Schildkröte‘ ausführlich mit ihnen.“
Die Gruppe setzte sich in Bewegung, Sarraux und der Portugiese wurden in die Mitte genommen. Pedro und zwei andere Männer suchten die Umgebung nach Joaquin Solimonte ab, aber sie konnten ihn nirgends finden. Am Ende fügten sie sich der erschütternden Einsicht: Nazario und Sarraux hatten El Tiburon über die Totenrutsche ins Jenseits befördert. Er hatte es nicht überlebt, wie es schon anderen vor ihm ergangen war.
Alle waren auf den Beinen, alles traf sich in der „Schildkröte“. Auch Arne von Manteuffel war jetzt zugegen. Die Ankerwache an Bord der „Wappen von Kolberg“ hatte gemeldet, daß im Hafen etwas nicht in Ordnung wäre. Daraufhin hatte sich Arne mit dem Beiboot übersetzen lassen und wohnte jetzt der Szene bei, die sich im zunehmenden Licht des Tages abspielte.
Anklagend deutete Diego auf Nazario und Sarraux. „Sie sind die Mörder! Wir werden Gericht über sie halten und sie aburteilen!“
„Ich stelle den Antrag, Arne von Manteuffel als Beisitzer für die Verhandlung zu wählen“, sagte Willem Tomdijk.
Die Männer und die Mädchen redeten aufgeregt durcheinander. Es gab niemanden, der einen Einwand hatte.
Arne von Manteuffel trat in die Mitte des Kreises, der sich gebildet hatte und fragte: „Wie lautet die Anklage?“
„Doppelter Mord“, erwiderte Carlos Rivero. „Diese Männer, Gilbert Sarraux und Joao Nazario, haben Esther getötet. Und sie haben auch El Tiburon auf dem Gewissen. Sie haben ihn von der Totenrutsche in die See gestoßen.“
„Lüge!“ schrie Nazario. „Ihr braucht wohl einen Sündenbock, was? Wir haben damit nichts zu tun!“
„Wir sind unschuldig!“ rief auch Sarraux. „Da kann nur eine Verwechslung vorliegen!“
Aber die Angst hatte sie beide gepackt; Sie wußten, daß die Fakten gegen sie sprachen. Die Verhandlung begann, und man würde sie beider Morde überführen und für schuldig erklären. Jetzt mußten sie doch sterben, denn nur so konnte das Urteil lauten. Sie begriffen, daß sie den Gegner gründlich unterschätzt hatten, aber die Einsicht erfolgte zu spät. Sie saßen in der Falle, es gab kein Entweichen mehr.
El Tiburon ahnte unterdessen nichts von der Entwicklung der Dinge. Nach wie vor hockte er unter dem Felsenüberhang und wartete auf die Gelegenheit, nach oben aufsteigen zu können.
Was würde die nahe Zukunft bringen? Er wußte es. Er würde nicht ruhen, bis er die Black Queen gefunden und sich an ihr gerächt hatte. Denn sie war an allem schuld. Man mußte die Wurzel des Übels vernichten. Er, El Tiburon, schwor sich, die Black Queen zu töten …
ENDE
Roy Palmer
Rivalen auf Leben und Tod
Joaquin Solimonte, genannt „El Tiburon“, war mit knapper Not dem drohenden Tod entronnen. Es war nicht das erste Mal in seinem bewegten Leben, daß er gegen die freßgierigen Mörder kämpfte. Doch wieder – wie damals vor zwei Jahren auf Hispaniola – hatte ihn das Ereignis arg mitgenommen. Schwer atmend kauerte er unter dem Felsenüberhang, unter den er sich gerettet hatte, und blickte wie in Trance auf die Wasserfläche unterhalb der Totenrutsche von Tortuga.
Drei Haie – wie damals in der kleinen Bucht westlich von Cabo Samaná! Die toten Tiere waren verschwunden, ihre Artgenossen hatten sie im Blutrausch angefallen und verschlungen. Wie sich die Dinge im Leben gleichen, dachte El Tiburon.
Sein Mund verzog sich zu einem harten Grinsen. Selbstironie: Der Beiname schien ihm wie ein Fluch anzuhaften. Die Haie verfolgten ihn im Traum. Aber es gab einen noch gefährlicheren Gegner, der jetzt zu seinem Todfeind geworden war – die Black Queen.
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