„Ich bin wach“, erwiderte El Tiburon. „Und ich empfehle dir, mich loszubinden, du Drecksack. Ihr habt keine Chance. Ganz Tortuga wimmelt von euren Gegnern. Ihr habt einen schweren Fehler begangen, hierherzusegeln. Was seid ihr bloß für Narren!“
Nazario warf ihn zu Boden. El Tiburon verzog das Gesicht vor Schmerzen, aber er stöhnte nicht. Seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepreßt.
„Hör gut zu“, sagte Gilbert Sarraux. „Wir brauchen gar nicht groß herumzudiskutieren. Wir haben ein paar Fragen, und du wirst sie uns beantworten. Dann lassen wir dich laufen. Du hast mein Wort darauf.“
El Tiburon spuckte vor ihm aus. „Auf dein Wort pfeife ich. Ihr habt Esther umgebracht.“
Nazario trat ihm in die Seite, und plötzlich fühlte sich El Tiburon an damals erinnert, als er auf dem Deck der Piratengaleone Chagalls gelegen hatte.
„Hast du sie gefunden?“ fragte der Portugiese. „Bist du vielleicht ihr fester Freier?“
„Ich bin ein Mann, der zu kämpfen versteht“, erwiderte El Tiburon mit erzwungener Ruhe. „Binde mich los, und ich beweise es dir. Hast du Angst vor mir? Gib mir ein Messer, und schlage dich auf ehrliche Weise mit mir – Meuchelmörder!“
Wieder trat Nazario mit haßverzerrtem Gesicht zu, aber Sarraux glitt neben ihn und hielt ihn am Arm zurück. Sarraux ging in die Hocke und blickte El Tiburon an. „Ich habe das Mädchen getötet, damit du es weißt, und ich bereue es nicht. Du lebst auf Hispaniola, El Tiburon, und scheinst ein Bukanier von echtem Schrot und Korn zu sein. Warum begreifst du also nicht? Wir arbeiten im Auftrag eines zahlungskräftigen Kapitäns, der uns mit Gold entlohnen wird. Der Zweck heiligt die Mittel. Hättest du dich anders verhalten?“
„Ich bin für Intrigen nicht zu haben“, sagte El Tiburon verächtlich. „Wer ist euer Kapitän?“
„Das können wir dir leider nicht verraten“, erwiderte der Bretone. „Aber es tut auch nichts zur Sache. Sei vernünftig, Mann. Du kannst dir viel Ärger ersparen. Verrate, was du weißt. Keiner wird es erfahren, daß du gesungen hast.“
El Tiburon hütete sich, preiszugeben, daß er wußte, wer die Auftraggeberin der beiden war. Die Black Queen sandte ihre Spione nach Tortuga – dieses Geheimnis würde er vorerst für sich behalten. Vielleicht konnte er es später verwerten. Wenn die Queen nicht erfuhr, daß sie entlarvt war, konnte man sie in Punta Gorda überraschen.
„Was wollt ihr wissen?“ fragte El Tiburon.
„Siehst du, Joao“, sagte der Bretone. „Er wird vernünftig. Es sind nicht immer die rüden Methoden, die zum Erfolg führen.“ Er richtete seinen Blick wieder auf El Tiburon. „Wie viele Schiffe sind zur Schlangen-Insel zurückgesegelt?“
„Von welchen Schiffen sprichst du? Und was ist das – die Schlangen-Insel?“
„Du hast dich verschätzt, Gilbert“, sagte Nazario leise und drohend. „Er ist gerissener, als du angenommen hast. Er versucht, uns einzuseifen.“
„Vier Schiffe“, sagte der Bretone. „Nur die ‚Wappen von Kolberg‘ ist hier zurückgeblieben. Wohin sind die vier Kähne gesegelt?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung“, entgegnete El Tiburon.
„Wie viele Verluste hatte der Seewolf im Gefecht mit dem Verband der Black Queen?“ wollte Sarraux wissen. „Arne von Manteuffel und seine Bastarde von Decksleuten haben es dir bestimmt verraten.“
„Nein, ich weiß auch davon nichts.“
„Was soll mit den Siedlern von El Triunfo geschehen?“ fragte Sarraux.
„Frag die Siedler. Sie wissen es am besten. Ich kümmere mich nur um meine eigenen Angelegenheiten.“
„Ist etwas über die weiteren Pläne des Seewolfs durchgesickert? Was hat er jetzt vor?“ fragte Sarraux.
El Tiburon schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Ich kenne diesen Seewolf, von dem du dauernd sprichst, ja gar nicht.“
Nazario verlor die Geduld. Er stürzte sich auf El Tiburon, schlug auf ihn ein, bedrohte ihn mit dem Messer und wollte ihn verletzen. Er wurde von Sarraux gebremst, der seinerseits durch List zum Erfolg zu gelangen versuchte. Aber es nutzte alles nichts, sie konnten El Tiburon keine Information entlocken. Er blieb stumm wie ein Fisch.
Aber Nazario und Sarraux hatten in der „Schildkröte“ von der Totenrutsche gehört. Es war Nazarios Vorschlag, den Gefangenen dorthin zu schleppen.
„Keine Angst, dort sucht uns keiner“, sagte er zu seinem Kumpan. „Wenn wir diesen Hund erst mal auf die Rutsche setzen, wird er uns darum anbetteln, alles ausspucken zu dürfen, was er weiß.“
Die Totenrutsche war eine westlich des Hafens von Tortuga gelegene Steilklippe, in der sich eine glattgeschliffene, körperbreite Rille befand, die fast senkrecht zum Meer abfiel. Tote wurden hier ihrem Element übergeben – wer auf Tortuga starb, trat auf ihr seine letzte Reise an und sauste ins Meer. Das Untertauchen der Körper war für die Haie das Signal, daß es leichte Beute gab. Daran hatten sie sich seit Jahren gewöhnt.
Unbehelligt und ungesehen erreichten Sarraux und Nazario mit ihrem Gefangenen die Rille. Sie lösten seine Fuß fesseln, hielten ihn aber an Armen und Beinen fest und legten ihn in die Rille, aus der es kein Entkommen mehr gab. Wenn sie ihn losließen, half auch kein Halten und Festkrallen mehr.
„Sprich“, sagte Sarraux eindringlich. „Es ist deine letzte Chance, El Tiburon, sonst stirbst du.“
Den Tod vor Augen, entwickelte El Tiburon eine verwegene Art von Mut. Er lachte und erwiderte: „Tut, was ihr wollt. Ich bin kein Verräter. Ich zeige euch, wie ein Mann stirbt, ihr Ratten!“
Der Morgen graute bereits über Tortuga, und jetzt verloren die beiden Kerle die Geduld. Bei Tageslicht mußten sie sich wieder verstecken, sonst wurden sie unweigerlich entdeckt.
„So kriegen wir das nicht hin“, sagte Nazario. „Das hat alles keinen Zweck. Der Kerl ist stur wie ein Ochse, Gilbert. Suchen wir uns einen anderen Informanten. Einen von den Hunden, die nach uns suchen, erwischen wir schon noch.“
„Gut, einverstanden“, sagte der Bretone und grinste dem Spanier ins Gesicht. „Das hast du von deinem Starrsinn, du Ochse. Wir lassen dich zu den Haien sausen. Es ist uns egal. Männer wie du sind überflüssig.“
„Euch sind zu viele Fehler unterlaufen“, sagte El Tiburon. „Sie werden euch erwischen, verlaßt euch drauf.“
„Zeig uns doch mal, ob du deinen Beinamen wirklich verdienst“, zischte Nazario – und gab dem Bretonen das Zeichen.
Gleichzeitig ließen sie El Tiburon los. Er konnte sich nicht festhalten. Nur eins konnte er noch tun: Im Fallen entriß, er Nazario das Messer, das dieser in der Rechten hielt. Nazario fluchte und wollte es sich zurückholen, doch es war zu spät. El Tiburon raste die Totenrutsche hinunter und war nicht mehr aufzuhalten.
Er streckte die Beine weit von sich und hielt das Messer vor der Brust fest. So schoß er in die Tiefe und fühlte sich wieder an Chagall erinnert, der ihn den Haien zum Fraß vorgeworfen hatte.
Allein der Gedanke ließ seinen Haß und Zorn erneut aufflammen. War er eben noch etwas benommen gewesen, so wurde er jetzt hellwach. Er stieß ins Wasser, begann sofort zu schwimmen und versuchte, das Ufer zu erreichen.
Aber die Haie lagen bereits auf der Lauer – wie damals auf Hispaniola. El Tiburon hatte keine Chance, das rettende Ufer zu erreichen. Aber er war zum Kampf bereit, wild war sein Haß, und sein Rachedurst trieb ihn an. Wer war er denn? Eine Marionette, die sich vernichten ließ?
Nein, es genügte nicht, ihn ins Wasser zu werfen. Sein aufbrausendes Temperament verlieh ihm die Kraft, die er brauchte, vergessen waren die Schmerzen im Hinterkopf. Er würde sich an Sarraux und Nazario rächen – und auch das teuflische schwarze Weib würde er zur Strecke bringen! Er würde nicht eher ruhen, bis er sie gestellt hatte!
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