Was also ging hier vor, was wurde gespielt? Wer war ein Freund, wer ein Feind? Was war richtig, was falsch? Hinkle taumelte etwas. Um ihn herum, auf dem Hauptdeck der „Le Vengeur III.“ schien sich alles zu drehen. Die Männer murmelten, Hinkle verstand nichts von dem, was sie sagten. Und er sah auch nicht sonderlich gut. Er mußte die Augen zusammenkneifen, um alle Gesichter klar erkennen zu können.
Unwillkürlich schrak er wieder zusammen. Der wilde Kerl mit dem dichten schwarzen Bartgestrüpp jagte ihm einen neuen Schrecken ein. Wer war das? Und der, dem das rechte Auge fehlte? Und der mit den gewaltigen Narben auf dem nackten Rücken? Waren das nicht Piraten, Schnapphähne, Küstenwölfe und Schlagetots?
Er richtete seinen Blick lieber wieder auf Siri-Tong. Ganz deutlich sah er sie vor sich, sie stand ja auch dicht genug vor ihm. Auch ihre Stimme klang silberhell in seinen Ohren.
„Ich weiß, was du denkst, Hinkle“, sagte sie. „Wer wir sind. Nun, wir sind Korsaren, und wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Black Queen zu vernichten. Sie ist unsere erklärte Feindin – eine Gefahr für die ganze Karibik. Gegen El Triunfo und seine Bewohner haben wir aber nichts. Die ganze Geschichte mit Jean und Carlos beruht auf einem Mißverständnis.“
„Auf welchem denn, Madam?“ fragte Hinkle.
„Das habe ich dir schon zehnmal erklärt, Mann“, sagte Marty. „Sie sind keine Spione, aber Morrison und den anderen wollte das nicht in den Kopf.“
„Wann fällt bei dir endlich der Silberling, Hinkle?“ fragte Doc Delon mit fast verzweifelter Miene.
Siri-Tong setzte Hinkle sehr geduldig auseinander, wie sich alles entwickelt hatte, von Ribaults und Riveros Marsch durch den Dschungel begonnen bis hin zum Überfall der Spanier und dem kurzen Kampf am Fluß, bei dem Ribault, Rivero, Siri-Tong und die anderen die Gruppe von Siedlern vor dem sicheren Tod bewahrt hatten.
Doc Delon, Marty und die Siedler bestätigten das alles – und nun, endlich, atmete Hinkle auf. Er befand sich nicht mehr in Gefahr. Er war unter Freunden. Vergessen war die unglückliche Episode von der Flucht der beiden „Spione“, bei der Hinkle gleich zweimal großes Pech gehabt hatte, vergessen auch die Schrecken des Tages. Die Kämpfe waren vorbei, er brauchte nicht mehr um sein Leben zu bangen.
Mit schüchternem Grinsen nahm er eine Muck entgegen. Barba hatte sie mit Rum gefüllt und sagte: „Da, trink. Das muntert dich auf, mein Freund.“
Hinkle stürzte den Rum die Kehle hinunter. Doc Delon bekam ebenfalls Durst und nahm die nächste Muck entgegen. Reihum gingen die Flaschen, und die Männer und die Rote Korsarin stießen wie Verschwörer miteinander an.
Hinkle setzte sich auf den Rand der Kuhlgräting und begann zu berichten.
Tatsächlich hatte dieser schwerhörige, kurzsichtige Hinkle einiges zu erzählen, wie Carlos Rivero schon angedeutet hatte. Hinkle war fast eine Schlüsselfigur bei den Geschehnissen in El Triunfo, denn er hatte alles von Anfang an aus nächster Nähe miterlebt.
So vernahmen die Zuhörer an Bord der „Le Vengeur III.“, wie er mit der Morrison-Patrouille, zu der er gehört hatte, zum erstenmal der Black Queen begegnet war. Zu spät hatte Hinkle Georges Buisson erkannt, und deshalb hatte es Tote gegeben, Axton und Longtree. Sie hatten ihr Leben auf dem feuchten Urwaldboden ausgehaucht.
In der Gruppe der Queen hatte es einen Verletzten gegeben – Doc Delon hatte ihn später auf Morrisons Befehl hin behandelt. Er hätte sich weigern können, hatte es dann aber doch nicht getan und sich nur darauf beschränkt, die Siedler vor der Black Queen zu warnen.
Willem Tomdijk, der Bürgermeister, hätte die Black Queen und Caligula wegen Axtons und Longtrees Tod zur Rechenschaft ziehen müssen. Es wäre seine Pflicht gewesen, die Bürgerversammlung zusammentreten und Gericht abhalten zu lassen, doch er hatte es nicht getan. Er hatte sich beschwatzen lassen, sowohl von der Queen als auch von Caligula und Buisson, die an dem großen Trinkgelage in der Mission teilgenommen hatten.
Die Einzelheiten über die nächtliche Orgie hatte bereits Marty zum besten gegeben, alle anderen Details hatte Doc Delon hinzugefügt. Hinkle übersprang also diese Phase der Geschehnisse und fuhr mit dem Bericht über das böse Erwachen in El Triunfo und den Angriff der Spanier fort.
Hinkle hatte Morrison und Clark neben sich sterben sehen. Er war in panischem Entsetzen in den Busch geflohen und hatte sich – wegen seiner schlechten Augen – völlig verirrt. Durch einen puren Zufall hatte er einen Kieker gefunden. Es war ihm gelungen, in der Abenddämmerung auf eine Anhöhe zu klettern und einen Baum zu ersteigen. Von dort aus hatte er durch das Spektiv den letzten Kampf beobachtet, der in der Hafenbucht von El Triunfo stattgefunden hatte.
„Mit so einem Fernrohr kann ich wie jeder normale Mensch sehen“, erklärte er.
„Eines Tages wird es Augengläser für Sehbehinderte geben“, sagte Doc Delon. „Aber jetzt weiter, Hinkle. Was ist in der Bucht geschehen?“
„Zwei Schiffe haben die drei Galeonen der Spanier angegriffen, die nach dem Auslaufen des Verbandes zurückgeblieben sind.“
„Also ist das Geschwader bereits nach Cartagena zurückgekehrt“, sagte die Rote Korsarin. „Wenn wir im richtigen Moment einen Ausguck am Seeufer postiert hätten, hätten wir die siebzehn Schiffe sehen können.“ Daß es sich um einen Verband von zwanzig Galeonen gehandelt hatte, war durch die Berichte von Ribault, Rivero, Doc Delon und Marty inzwischen bekannt.
„Es fällt aber nicht weiter ins Gewicht, daß wir sie nicht gesehen haben“, sagte Ribault. „Wichtig ist, daß die Dons uns nicht entdeckt haben.“ Er nickte Hinkle aufmunternd zu. „Nur weiter. Um welche Schiffe handelte es sich bei den Angreifern? Etwa um die ‚Caribian Queen‘ und die ‚Aguila‘?“ Er beschrieb die Galeonen.
Hinkle wurde ziemlich aufgeregt. „Ja, ja, das sind sie. Die Queen hat eine spanische Galeone versenkt und die beiden anderen gekapert. Ich wollte ’runter und zurück nach El Triunfo, habe mich aber wieder verlaufen. Dann bin ich eurem Kommando in die Hände gefallen und Rivero hat mich gepackt. Ich, äh, dachte: Das ist das Ende.“
„Du hast dich geirrt, Hinkle“, sagte Doc Delon. „Aber du wolltest gern zur Queen, oder?“
„Sie hat uns doch geholfen, nicht wahr?“
„Aus purem Eigennutz“, erwiderte der Arzt. „Aber vielleicht wirst du das nie begreifen. Ich glaube, du bist ein typischer Sturkopf.“
Der Bericht des Schwerhörigen war für Jean Ribault und Siri-Tong alles andere als ermutigend. Die Black Queen verfügte jetzt also über vier Schiffe – und sicher auch bald über eine stattliche Gefolgschaft, da sie mit Sicherheit die überlebenden Siedler einsammeln und an Bord nehmen würde.
Marty hatte eben noch ein paar Worte mit Hinkle gewechselt und fragte jetzt überrascht: „Wie war das? Unser Bürgermeister ist an Bord der ‚Caribian Queen‘?“
„Ich glaube, ihn erkannt zu haben. Und Emile Boussac, so scheint mir, ist auch mit dabei.“
„Dieser Willem“, sagte Doc Delon. „Er ist ein hoffnungsloser Narr. Die Queen hat ihn total verblendet. Wahrscheinlich hat er sich in sie verliebt. Sie wird ihn später, wenn sie ihn nicht mehr braucht, totschlagen und den Haien als Futter vorwerfen.“
„Das befürchte ich auch“, sagte Marty. „Und Boussac? Er hätte auf unserer Seite stehen können. Aber er wollte seine verdammte Kneipe retten und hat sich deswegen mit der Queen arrangiert. Und was hat er davon? Die ‚Mouche Espagnole‘ liegt in Schutt und Asche.“
„Wir können das Erstarken der Queen also nicht mehr verhindern“, sagte Jean Ribault. „Siri-Tong, dein Pessimismus war nicht unbegründet. Aber wir haben noch einen Pluspunkt.“
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