Erschöpft stiegen sie jetzt aus, halfen auch den Frauen an Land und befestigten die Jolle so zwischen ein paar flachen Uferfelsen, daß sie nicht abtreiben konnte.
Fosco Sampiero blickte sich aufmerksam nach allen Seiten um.
„Lodovisi und seine Kumpane dürften sich ins Innere der Insel zurückgezogen haben“, sagte er. „Gori, Sie haben doch noch gesehen, wie sie vom Riff zu dieser Landzunge geschwommen sind, nicht wahr?“
„Si, Signor Capitano, ja, das stimmt“, beeilte sich Gori zu versichern. „Wahrscheinlich verstecken sie sich jetzt irgendwo.“ Er wies zu der düsteren Masse aus Stein und Busch hinauf, in deren oberem Bereich sich die achtköpfige Bande derzeit tatsächlich vorankämpfte.
„Erst bei Morgengrauen können wir daran denken, sie zu verfolgen und zu stellen“, sagte der Kapitän. „Während der Nacht wäre es heller Wahnsinn, sich in das Dickicht zu wagen. Wir stellen Wachen auf und schlagen zwischen den Felsen ein Notlager auf, aber wir werden kein Feuer anzünden, denn wir wissen ja noch nicht, ob die Insel Martinique vielleicht bewohnt ist.“
Plötzlich peitschten im Nordwesten ein paar Pistolenschüsse, die trotz des aus Nordosten wehenden Passats deutlich zu vernehmen waren. Sampiero blickte zu seinen Männern.
Emilio Venturi, der Erste Offizier, der sich gerade um den Bootsmann Medola gekümmert hatte, schaute auf und sagte: „Diese letzte Frage dürfte hiermit wohl beantwortet sein, Signor Capitano.“
Lodovisi, Zorzo, Prevost und die fünf anderen Meuterer blieben zum selben Zeitpunkt mitten im Dschungel stehen, sahen sich untereinander an und überlegten, was die drei Pistolenschüsse wohl zu bedeuten hatten und wie sie sich verhalten sollten.
Der ehemalige Profos der „Novara“ grinste plötzlich.
„Hört zu“, sagte er leise. „Wo geschossen wird, sind Menschen, und diese Menschen haben wahrscheinlich nicht nur eine Handvoll Pistolen und Munition – vielleicht verfügen sie über ein ganzes Arsenal. Wir brauchen nur ein paar Schießeisen an uns zu bringen, dann können wir Sampiero und dem übrigen Gesindel einen Tanz liefern, der es in sich hat. Mit ein paar Pistolen und Musketen sind wir ihnen klar überlegen. Wir knallen sie ab wie die Hasen und schnappen uns ihre Weiber. Ha, das wird ein Spaß!“
„Roi“, sagte Corrado Prevost. „Wir müssen aber erst mal an die Waffen heran, und das ist gar nicht so einfach. Vielleicht sind es Spanier, die da geschossen haben. Ich könnte mir vorstellen, daß sie hier eine Festung oder so was Ähnliches haben. Angenommen, sie haben auf ein paar nackte Wilde gefeuert, die ihnen an den Hals wollten, dann werden sie auch uns einen heißen Empfang bereiten, sobald wir auftauchen.“
Lodovisi schüttelte den Kopf. „Die lieben Spanier und Portugiesen haben sich hier nie niedergelassen. Das weiß ich von Venturi, und der hat’s von Sampiero gehört. Keiner hat an dieser Insel Interesse, weil es hier zu viele Vulkane gibt.“
„Aber offenbar gibt’s doch Leute, die die Vulkane nicht fürchten“, erklärte Prevost. „Wer denn wohl?“
„Piraten“, sagte Zorzo.
„Und mit denen sollen wir uns ’rumschlagen?“ sagte ein anderer.
Lodovisi grinste immer noch. „Wer Angst hat, kann im Dschungel bleiben. Ich pirsche mich jedenfalls dorthin, wo die Schüsse gefallen sind, und sehe nach, was sich tun läßt. Die Waffen sind verdammt wichtig für uns, und ich bin bereit, dafür einiges zu riskieren. Kapiert?“
Er wartete keine Antwort ab, sondern drehte sich um und stapfte weiter, wobei er mit seinem Entermesser nach links und rechts hieb, um Farne und Lianen zu beseitigen.
Zorzo, Prevost und die anderen schlossen sich ihm wieder ohne großes Zögern an. Sie sahen ein, daß er recht hatte. Musketen und Pistolen waren für sie so wichtig wie Trinkwasser und Nahrung. Da es bald stockfinster sein würde, hatten sie auch einige Aussichten, mit ihrem Unternehmen Erfolg zu haben. Die Nacht war ihr Verbündeter.
Es zahlte sich jetzt aus, daß Hasard das ganze Tal sehr aufmerksam überblickt hatte, als sie auf dem Pfad nach unten gewandert waren. Er hatte sich einen Weg durch das Gebüsch und die weiten Grasflächen zurechtgelegt, die die Hänge bedeckten, und in diese Richtung führte er jetzt seine kleine Gruppe.
Es gab also noch diese andere Möglichkeit, zurück zu dem Plateau und dann zur Westbucht zu gelangen. Die Hänge waren an einer Stelle nicht so steil, daß man sie nicht erklimmen konnte. Hasard hastete geduckt dorthin, und trotz der zunehmenden Dunkelheit verlor er die Orientierung nicht.
Carberry und Shane waren dicht hinter ihm, und auch Dan hielt sich tapfer, trotz seines immer noch schmerzenden Beines.
Ihre Befreiungsaktion hatte besser funktioniert, als sie selbst zu glauben gewagt hatten. Sie hatten Erfolg gehabt. Doch das konnte Hasard nicht zu falschen Hoffnungen verleiten. Er hatte La Menthe noch schreien hören und jedes Wort verstanden: Der Kahlkopf trommelte einen Teil seiner Hausstreitmacht zusammen und nahm die Verfolgung auf. Es würde eine gnadenlose Hatz durch die Inselsavanne werden. Dabei war der „Herrscher von Martinique“ gleich zweifach im Vorteil. Er hatte Feuerwaffen, und er kannte sich vorzüglich aus, so daß er jede Möglichkeit der Abkürzung im Gelände nutzen konnte, um seinen entflohenen Gefangen den Weg zur „Isabella“ abzuschneiden.
Die Steigung nahm zu, und bald mußten die vier Männer sich auf alle viere niederlassen, um nicht auszurutschen. Gesträuch und hohes Uvagras deckten ihre Gestalten zu, und die fallenden Schatten der Nacht taten ein weiteres, doch unter sich vernahmen die Seewölfe jetzt die halblauten Rufe, mit denen sich die Verfolger untereinander verständigten.
„Hasard!“ zischte Big Old Shane. „Warum legen wir diesen Bastarden keinen Hinterhalt?“
„Das hat keinen Zweck“, gab der Seewolf zurück. „Sie würden uns ja doch zu früh bemerken und einfach ins Gebüsch feuern. Dann sind wir endgültig geliefert.“
„Aber wir können unsere Messer nach ihnen werfen“, raunte der Profos. „Glaubst du wirklich, ich würde diesen La Menthe oder diesen Duplessis verfehlen? Der Teufel soll mich holen, wenn ich’s täte.“
„Sie haben auch die Höllenflaschen“, flüsterte Hasard. „Es hat keinen Zweck, unsere einzige Chance ist die Flucht zur ‚Isabella‘.“
„Vielleicht haben Donegal und die anderen bei der Quelle die Schüsse gehört“, sagte Shane. „Es waren drei Schüsse, sie müssen also auf jeden Fall Unrat wittern, denn nur ein einziger hätte bedeutet, daß alles in Ordnung ist. Vermutlich haben auch Ben und die Kameraden auf der ‚Isabella‘ die Knallerei gehört – Mann, sie müssen doch was unternehmen!“
„Hoffen wir’s“, zischte der Seewolf. „Still jetzt, sonst verraten wir La Menthe noch, wo wir sind.“
Die Männer schwiegen und setzten den Aufstieg fort, so schnell sie konnten. Dan fiel jetzt doch etwas zurück, aber Carberry bemerkte es, drehte sich um und streckte die Hand nach ihm aus. Grinsend nahm Dan die Hilfe an. Mit dem Profos zankte er sich gern mal herum, aber in der Not hielten sie zusammen wie Pech und Schwefel.
Regis La Menthe hatte ungeduldig auf die drei Männer gewartet, die von dem Anwesen zu ihm und Duplessis heraufgestiegen waren, dann hatte er die kleine Gruppe ausschwärmen lassen und streifte jetzt mit ihr durch das Buschwerk.
Er konnte nicht wissen, wohin sich Hasard und seine drei Männer genau wenden würden, doch er konnte es sich in etwa ausrechnen, denn er nahm an, daß dem Seewolf die Beschaffenheit des Geländes nicht entgangen war. Ja, er war ein schlauer Hund, dieser Killigrew! Etwas schlauer noch, als La Menthe ihn eingeschätzt hatte, und genau das war der Fehler des Glatzkopfs gewesen. Er hatte es versäumt, die vier Gefangenen gleich auf dem Plateau zu fesseln. Hätte er es getan, hätten sie ihm einen derart üblen Streich nicht spielen können.
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