„Wieso?“ fragte Matt verdutzt. „Ist die Insel also doch bewohnt?“
„Augenblick mal“, sagte Sam. „Werfen wir nicht alles durcheinander, ja?“
Old O’Flynn empfing Bob Grey mit einem zornigen Blick. „Sag mal, du denkst wohl, wir haben alle Schlick auf den Augen. Ich kann eine Mißgeburt wie dich auch in zehn, zwanzig Jahren auf eine Meile Abstand noch von einem Gorilla oder Orang-Utan unterscheiden, und das ist gar nicht mal so einfach.“
Bob wollte darauf eine passende Antwort geben, aber Matt hielt ihn am Arm fest und sah Old O’Flynn an. „Lassen wir das lieber. Darf man erfahren, was hier läuft? Schön, ich seh ja, daß ihr die Quelle gefunden habt. Fein. Aber warum seid ihr vier hier und nicht oben auf dem Plateau?“
„Plateau? Was für ein Plateau?“ wollte Luke wissen.
„Na, jetzt hör aber auf“, sagte Bob empört. „Wollt ihr uns für dumm verkaufen? Das laß ich mir von dir nicht gefallen, Mister Morgan.“
„Vorerst wissen wir gar nichts“, sagte Old O’Flynn giftig. „Wir tappen hier im Ungewissen, und ich habe das langsam satt. Habt ihr in der Bucht die Schreie und den Pistolenschuß gehört?“
„Keine Spur“, erwiderte Matt. „Was hat das jetzt wieder zu bedeuten?“
„Das wissen wir nicht“, erwiderte der Alte. „Aber wenn ihr nichts gehört habt, warum scheucht euch Ben Brighton dann an Land?“
„Weil ihr schon zu lange weg seid und er sich fragt, warum ihr auf dem Plateau herumkriecht, während hier unten doch wohl eher eine Quelle zu finden ist.“ Matt räusperte sich. „Gary Andrews hat vomVormars aus oben, auf dem Plateau an den nördlichen Berghängen der Bucht, mit dem Kieker die Bewegung von menschlichen Gestalten wahrgenommen, und da haben wir angenommen, das wäret ihr. In Ordnung?“
„Ich denke schon“, sagte Old O’Flynn. „Hasard, Carberry, Shane und mein Sohn sind in die Berge aufgestiegen, um zu sehen, was es mit diesem Geschrei auf sich hat. Wir sind hiergeblieben und sollen auf die vier warten. Einverstanden, Mister Davies?“
Matt schüttelte den Kopf. „Nein, Sir. Da stimmt nämlich was nicht. Gary hat auf dem Plateau ganz deutlich insgesamt acht Männer unterscheiden können, und wir dachten, das wäret ihr. Jetzt seid ihr vier aber hier, und ihr seid vorher auch nicht mit Hasard zusammen ’raufgeklettert, oder?“
„Nein“, sagte der Alte verdutzt.
„Und Gary hat ganz bestimmt auch keinen Tang auf den Augen“, meinte Bob Grey. „Wenn er sagt, er hat acht Leute gesehen, dann waren es acht. Bloß hat er nicht unterscheiden können, wer das war.“
„Auf jeden Fall sind es vier zuviel“, sagte Old O’Flynn mit umwerfender Logik. „Aber falls es sich um einen Überfall gehandelt hat, hätte Hasard zwei Schüsse in die Luft abgegeben – wie vereinbart.“
„Und wenn er dazu keine Gelegenheit hatte?“ fragte Bill. „Was dann?“
„Die Angelegenheit ist höllisch kompliziert, verdammt noch mal“, sagte Luke Morgan. „Und faul.“
„Oberfaul, es stinkt bis hierher“, sagte Matt Davies. „Wir können hier nicht herumstehen. Wir müssen etwas tun.“
Sampiero und Venturi waren bei dem schwerverletzten Bootsmann Medola angelangt und halfen ihm über die Reling der Heckgalerie. Sie griffen ihm unter die Arme und führten ihn über den Spiegel des sinkenden Schiffes, bemüht, die Balance zu halten. Plötzlich war es für den Kapitän der „Novara“ keine Frage mehr, ob er bis zum bitteren Ende an Bord blieb oder nicht: Sie mußten Medola retten, und Emilio Venturi allein vermochte dies nicht zu schaffen.
Für einen Moment standen sie hart am Rand der Backbordseite und hatten hinter sich das Ruderblatt, das sich jetzt knarrend nach Steuerbord bewegte.
Sampiero paßte den günstigsten Zeitpunkt ab, dann schrie er: „Jetzt!“
Sie sprangen gleichzeitig und nahmen den Bootsmann in ihrer Mitte mit, tauchten mit den Füßen zuerst ein, schoßen wieder hoch und schwammen auf die Jolle zu.
Geistesgegenwärtig hatte sich Bianca Sampiero im Bootsheck aufgerichtet und eins der aufgeschossenen Taue zur Hand genommen, die unter den Duchten lagen. Sie warf es aus. Das Ende schwebte durch die Luft auf ihren Mann, auf Venturi und Medola zu, landete jedoch drei oder vier Yards vor ihnen in den Fluten.
Während die drei Rudergasten und die beiden anderen Frauen weiterpullten, packte Gori schleunigst das in der Jolle liegende Tauende und belegte es um die Ducht vor der Heckbank. Er wollte die Fehler von zuvor revidieren und neuen Mut und Einsatzbereitschaft beweisen.
Der Sog riß an den Leibern der drei Männer im Wasser und wollte sie zurück zur „Novara“ ziehen, die jetzt schneller in die Tiefe abglitt.
„Laßt mich los! Laßt mich zurück!“ rief Medola, aber Sampiero und Venturi hörten nicht auf ihn. Sie kämpften verbissen gegen die Macht des Wassers, stemmten sich gegen die tödliche Drift, gaben nicht auf.
Doch die knappe Distanz, die sie von dem Tau trennte, schien sich nicht zu verringern.
„Haltet mit dem Pullen ein!“ schrie Bianca Sampiero plötzlich.
Domenico Gori, der aus aufgerissenen Augen zu ihr hinüberblickte, glaubte anfangs, die Panik habe auch ihr den Geist verblendet, doch dann merkte er, wie ernst es ihr war. Er drehte sich zu den Rudergasten um und brüllte: „Aufhören! Habt ihr nicht gehört? Das ist ein Befehl, zum Teufel!“
Die drei Decksleute der „Novara“ waren nicht weit davon entfernt, höhnisch aufzulachen und die Order ihres Zweiten Offiziers zu ignorieren, hatte er doch vorher ein so klares Bild von seiner Furcht und Schwäche geliefert.
Doch sie gehörten nicht zum Schlag eines Zorzo oder Prevost, sie spürten ein tiefes Gefühl der Verbundenheit mit ihrem Kapitän, der sich ihnen gegenüber immer loyal verhalten hatte – und so gehorchten sie. Auch die Frauen hielten inne.
Die Jolle stoppte, sobald sich die Blätter der Riemen aus dem Wasser hoben. Dann trieb sie zurück zur „Novara“, und auch das straff im Wasser liegende Tau bewegte sich in derselben Richtung.
Sampiero streckte die Hand danach aus, packte das Tau, zog Medola und Venturi in einer gewaltigen Anstrengung mit sich und sah zu seiner Freude, daß auch sein Erster Offizier das Tau packte und sich mit aller Kraft daran festklammerte. Alle beide hielten sie sich mit einer Hand fest, mit der anderen zerrten sie Medola mit sich, der wieder das Bewußtsein verloren hatte.
Ivana Gori hatte Medola für tot gehalten, als sie ihn so reglos in der Kapitänskammer hatte liegen sehen, doch jetzt erhielt sie einen Begriff davon, wie zäh Männer dieses Schlages waren. Noch war Medolas Stunde nicht gekommen, noch brannte sein Lebenslicht, wenn auch nur schwach und flackernd.
„Pullt an!“ rief Gori. Die Riemen tauchten wieder ein. Ein Ruck lief durch die Jolle, langsam, aber beständig schob sie sich aus dem Bannkreis des rauschenden Trichters.
Sampiero, Venturi und Medola unternahmen jetzt keinen Versuch, sich näher an das Boot heranzubringen. Sie wußten, daß es zwecklos war. Sie schöpften ein wenig Atem und Kraft, ließen sich schleppen und hangelten erst wieder ein Stück voran, als das energische Zerren an ihren Beinen nachließ.
Bianca und der Zweite begannen, das Tau Hand über Hand durchzuholen, und rasch schrumpfte der Abstand zwischen ihnen und den drei keuchenden Männern.
Von allen Seiten strebten die Schiffbrüchigen auf die Jolle zu: der Rudergänger, der Feldscher und noch gut ein halbes Dutzend von denen, die auf Sampieros Befehl hin vom Achterdeck gesprungen waren.
Sie alle hielten sich schließlich an den Dollborden fest, wandten die Köpfe und sahen schweigend zu, wie die „Novara“ in den Fluten verschwand. Nur für kurze Zeit schwamm ihr verziertes Heck mit dem Ruderblatt noch wie ein wunderbares Reliefbildnis im Mittelpunkt des Wirbels, dann floß das Seewasser darüber zusammen. Das Ruder entzog sich als letztes den Blicken der Männer und Frauen.
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