Kein Strudel der Weltmeere konnte ein so großes Schiff wie die „Novara“ binnen weniger Augenblicke in die Tiefe ziehen. Dagegen sprachen die Trägheit der Masse und die Behäbigkeit, mit der der Dreimaster zwangsläufig seine Abwärtsfahrt vollführen mußte. Nein, schnell ging das nicht, sondern es vollzog sich fast wie ein Zeremoniell, bei dem die „Novara“ ächzend wie ein verwundeter Gigant nunmehr in nahezu senkrechte Haltung abkippte und das verzierte Heck mit der Galerie und den Bleiglasfenstern der Kapitänskammer hoch aus der See hob. Zoll um Zoll sank sie. In ihrem Frachtraum tanzten die Weinfässer und die Werkzeugkisten im schwappenden Wasser. Bald würden sie unter die Deckenbalken gepreßt werden.
Sampiero und seine Männer waren ganz bis zur Heckreling hinauf geklommen und kletterten jetzt darüber weg. Damit begaben sie sich auf den Heckspiegel und befanden sich praktisch zwischen der großen Achterlaterne und der Galerie, die rund ums Plattgatt lief, auf der achteren Außenhaut ihres Schiffes.
Von hier aus vermochten sie zu sehen, wie sich die Jolle in zähem, beständigem Kampf von der Galeone entfernte. Emsig arbeiteten die vier Männer an den Riemen, aber auch die Frauen hatten mit zugegriffen und ruderten so gut mit, wie sie es konnten. Bianca Sampiero saß auf der Heckducht und hielt die Ruderpinne. Immer wieder drehte sie sich zu ihrem Mann und dessen letzten Getreuen um, die wie kleine, hilflose Kreaturen auf dem mächtigen Heckspiegel der „Novara“ aussahen.
„Fosco!“ schrie Bianca, so laut sie konnte. „Wir schaffen es! Folgt uns, wir werfen euch Taue zu, an denen ihr euch festhalten könnt! Hörst du mich?“
Sampiero winkte ihr zu, dann sagte er zu seinen Männern: „Ihr springt jetzt. Es ist die letzte Chance, nehmt sie wahr. Versucht, die Insel zu erreichen und Lodovisi zu stellen, der dies alles angezettelt hat. Zorzo und Prevost haben Cavenago, Medola und Teson niedergestochen, sie verdienen dafür den Tod. Über Lodovisi sollte man Gericht halten, ich habe es versäumt, und deshalb trage ich die eigentliche Schuld an diesem Unglück.“
„Lodovisi wußte, daß Sie ihn noch bestrafen würden, weil er aufwieglerische Reden geführt hatte, Signor Capitano!“ rief Emilio Venturi. „Sie hätten auf jeden Fall damit gewartet, bis wir Nombre de Dios erreichten. Deshalb wollte er vorher von Bord, wollte sich aber auch an Ihnen rächen. Dieser Hund, dieser Mörder!“
Sampiero richtete sich halb auf und schrie seinen Leuten zu: „Springt! Auf was wartet ihr, ihr elenden Narren?“
„Signore!“ rief der Rudergänger. „Sie müssen uns begleiten, das sind Sie uns schuldig!“
„Ja! Ich komme ja auch! Springt!“
Sie krochen zum Rand des Spiegels, erhoben sich, stießen sich kräftig mit den Beinen ab und flogen dem Wasser entgegen, das inzwischen die „Novara“ bis hinauf zur Querwand des Achterkastells geschluckt hatte.
Wieder drang ein Stöhnen aus der Tiefe des Schiffsleibs, ein urwüchsiger, dumpfer Laut, in dem sich alle Qual zu vereinen schien, die die Männer empfanden.
Venturi blickte seinen Kapitän an. „Capitano, ich weiß, daß Sie mit diesem Schiff in Gottes tiefen Keller sinken wollen, ich sehe es Ihnen an! Aber das lasse ich nicht zu!“
„Venturi, Sie haben mir keine Anweisungen zu geben!“
„Das tue ich auch nicht.“
„Verschwinden Sie endlich! Hauen Sie ab!“
„Nein! Ich bleibe!“
„Venturi, ich kann Sie zwingen, diesen Teufelskahn zu verlassen, das wissen Sie ganz genau!“
„Sie werden es nicht tun!“
Ja, das stimmte: Niemals würde Sampiero es über sich bringen, Hand an seinen Ersten Offizier zu legen, auf den er immer große Stücke gehalten hatte. So gesehen, befand er sich jetzt in einer Zwangslage, denn er konnte es nicht verantworten, den Mann mit sich sterben zu lassen.
„Capitano, hören Sie mich an!“ schrie Venturi. „Sie begehen ein Verbrechen an Ihrer Frau, wenn Sie hierbleiben! Und es ist auch ungerecht der Mannschaft gegenüber, die Ihre Führung weiterhin braucht! Capitano – unterlassen Sie diesen unsinnigen Mannesbeweis!“
Sampiero wandte sich wütend zu ihm um. „Sie beleidigen mich! Gehen Sie von Bord, ehe ich mich vergesse! Sie sind ein Trottel, ein Einfaltspinsel und ein unfähiger Anfänger, den ich an Bord meines Schiffes nur geduldet habe, weil ich Mitleid mit ihm hatte!“
Venturi lachte freudlos auf. „Beschimpfen Sie mich ruhig, es stört mich nicht. Deswegen bleibe ich trotzdem.“
„Fosco!“ ertönte ganz schwach aus dem Tosen des Wassers die Stimme von Bianca Sampiero. „Mein Gott, so kommt doch endlich!“
„Emilio!“ schrie nun auch Tosca Venturi.
Sampiero kroch auf Venturi zu, um ihn nun doch zu packen und ins Wasser zu stoßen. Etwas kochte in seinem Inneren über. Er begriff den Starrsinn seines Ersten nicht und vergaß darüber seine eigene Verbohrtheit.
Sampiero hatte Venturi, der vor ihm auswich, fast erreicht, da wurden sie beide durch etwas völlig Unerwartetes abgelenkt.
Aus der Tür der Kapitänskammer, die sich jetzt in waagerechter Lage befand, kroch eine Gestalt hervor, die sich an den Taljen der Heckbalustrade festklammerte, und sich – augenscheinlich unter größter Anstrengungen – daran hochzog. Sie schaffte es, stellte sich mit den Füßen auf die Achterwand der Hütte und schob dem Kapitän und seinem Ersten ein bleiches Gesicht mit weit aufgerissenen Augen entgegen, das beim ersten Hinsehen wie das Antlitz eines Geistes anmutete.
Der Mann war Vittorio Medola.
Old O’Flynn, Sam Roskill, Luke Morgan und Bill rissen augenblicklich ihre Musketen und Tromblons hoch, als es im Dickicht raschelte. Trotz des diffusen Dämmerlichtes, das jetzt einzusetzen begann, konnten sie alle vier deutlich die Bewegung verfolgen, die keine zehn Yards von ihnen entfernt war und von einem größeren Lebewesen herzurühren schien.
„Achtung!“ zischte Old O’Flynn. „Ich gebe einen Schuß ab, und zwar dicht über den Rücken von dem Kameraden hinweg. Ist er ein Mensch, gibt er sich wohl zu erkennen, ist es ein Tier, wird es bocken und die Flucht ergreifen, und dann strecken wir es nieder.“
„Nur zu“, raunte Sam Roskill. „Wir sind bereit.“
Der Alte kniff ein Auge zu und zielte ruhig über den Lauf seiner Muskete, doch jetzt tönte ein Ruf aus dem Gebüsch: „He – Freunde, seid ihr das? Hasard? Shane?“
„Matt Davies, hol’s der Henker“, knurrte Old O’Flynn. „Dich reitet ja wohl der Teufel, wie? Um ein Haar hätte ich dir das ganze Stroh aus deinem verfluchten Schädel geblasen.“
Luke Morgan stieß heftig die Atemluft aus, dann sagte er: „Mann, Matt, das war wirklich knapp. Kannst du nicht eher Bescheid geben, wer du bist?“
„Ich hab euch doch auch eben erst entdeckt“, verteidigte sich der Mann mit der Eisenhakenprothese. „Kann ich mich jetzt zeigen, oder habt ihr die Schießeisen immer noch auf mich gerichtet?“
„Vorwärts“, sagte der Alte und ließ die Muskete sinken. „Was ist denn bloß los? Bist du allein?“
„Nein. Bob Grey ist bei mir.“
„Na, Mahlzeit“, brummte Sam Roskill. „Auf euch haben wir gerade gewartet. Was wollt ihr? Habt ihr Heimweh nach uns gehabt?“
Matt Davies trat aus dem Dickicht hervor und grinste breit. „Da irrst du dich aber gewaltig, Sam. Von mir aus hätten wir an Bord der Old Lady bleiben können, aber Ben bestand darauf, daß wir mal nach euch Ausschau halten. Na ja, wir haben eure Stimmen gehört und …“
Er wurde durch Bob Grey unterbrochen, der jetzt hinter ihm war und rief: „Vorsicht, nicht schießen, Leute! Ich bin’s, euer guter alter Bob! Ich bin kein Wildschwein und auch kein Hirsch, überzeugt euch bitte davon, bevor ihr abdrückt!“
„Du Rüsseltier“, sagte Luke wütend. „Schrei hier doch nicht so ’rum. Willst du uns die Wilden auf den Hals locken?“
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