Während sie sich drehte und etwas nach Steuerbord krängte, schienen sich die Wassermassen im Inneren des Rumpfes nach vorn zu verlagern. Jedenfalls wurde sie kopfplastig und tauchte tief mit dem Bug nach unten, während das Heck sich so weit aus der See hob, daß schon fast die Unterkante des Ruderblattes zu sehen war.
Ein einziger Schrei, von vielen Kehlen ausgestoßen, gellte zu Lodovisi herüber.
Die „Novara“ befand sich jetzt zwischen ihm und dem „Auge“ des Riesenstrudels. Ganz unvermittelt geschah etwas, mit dem er niemals gerechnet hätte.
Er gewann mehr Vortrieb, gelangte jetzt besser voran und konnte mehr Distanz zwischen sich und das Schiff legen. Er begriff, daß die „Novara“ dem Sog etwas von seiner äußeren Kraft genommen hatte, zumindest in diesem Moment. Und so verhalf sie dem Mann, der ihren drohenden Untergang bewirkt hatte, zur Rettung. Dies war der größte Aberwitz des schrecklichen Ereignisses.
Roi Lodovisi fühlte ungeheuren Triumph in sich aufsteigen. Er beruhigte sich, schwamm wieder mit langen und kräftigen Zügen und dachte: Verreckt, ihr Ratten, ersauft, ihr habt es nicht besser verdient!
Hasard, Carberry, Shane und Dan O’Flynn standen auf dem Plateau und blickten abwechselnd durch die beiden Spektive, die sie bei sich trugen. Der Berg war wirklich der ideale Aussichtsplatz, als den sie ihn eingeschätzt hatten. Von hier oben konnte man nahezu die ganze Insel überschauen.
Am östlichen Ufer ragte eine Landzunge ins Meer, die große Ähnlichkeit mit einer zum Zupacken bereiten Hand hatte. Jenseits dieses bizarren Auswuchses, den eine Laune der Natur geschaffen zu haben schien, war durch die Optik klar die dreimastige Galeone zu erkennen, die sich im Kreis bewegte und ihr Vorschiff mehr und mehr in die Fluten senkte.
„Allmächtiger“, sagte Hasard. „Das kann doch nicht wahr sein. Wie konnte das geschehen? Es erscheint mir unwahrscheinlich, daß der Kapitän und seine Mannschaft den Strudel nicht rechtzeitig genug bemerkt haben.“
Shane, der gerade durch das zweite Rohr spähte, meinte: „Das Schiff ist leck, und vielleicht hat es Ruderbruch erlitten. Anders kann ich es mir nicht vorstellen.“
„Bei der ruhigen See?“ fragte Dan. „Mann, das gibt’s doch nicht.“
„Da stimmt was nicht“, sagte Carberry. „Die Sache stinkt, und zwar ganz gewaltig. Ich wette, da ist irgendeine Riesensauerei mit im Spiel.“
„Egal“, sagte der Seewolf. „Wir müssen sofort etwas unternehmen. Zu retten ist das Schiff nicht mehr, aber ich sehe, daß einige Männer bereits ins Wasser gesprungen sind und auf die Landzunge zuschwimmen. Gleich verlassen auch die anderen das Schiff, eine andere Möglichkeit haben sie nicht mehr. Wir müssen Ben Bescheid geben, daß er mit der ‚Isabella‘ um das Südkap herumsegelt und versucht, die Schiffbrüchigen aufzufischen. Vielleicht sind Leute dabei, die kaum schwimmen können und es bis zum Ufer nicht schaffen.“
„Ob das wohl ein Spanier ist?“ murmelte Carberry, der eben von Shane das Spektiv übernommen hatte. „Oder ein Portugiese?“
„Das erfahren wir schon noch“, sagte Hasard. „Ganz gleich, woher das Schiff stammt, es ist unsere verdammte Pflicht, der Besatzung zu helfen, wo wir noch helfen können. Los, Dan, du läufst zu deinem Vater, zu Sam, Luke und zu Bill und gibst ihnen einen kurzen Bericht von dem, was wir gesehen haben. Dann läufst du weiter zur Ankerbucht der ‚Isabella‘, meinetwegen mit Bill zusammen, und sagst Ben Bescheid, daß er und die anderen sofort auslaufen sollen. Haltet euch nicht damit auf, erst zum Schiff hinüberzupullen. Wir acht begeben uns auf dem Landweg zu der östlichen Landzunge und sehen, ob wir von dort aus etwas tun können.“
„Aye, Sir, bin schon unterwegs“, sagte Dan. Er drehte sich um und verließ das Plateau.
Er lief zu den Buschgruppen hinunter, die sie beim Aufstieg passiert hatten, stolperte in seiner Hast ein wenig, hatte aber keine Mühe, das Gleichgewicht zu halten und ohne Aufenthalt weiterzuhetzen.
Plötzlich registrierte er jedoch rechts von sich, hinter einem dichten Dornengerank, eine Bewegung. Er lief zu schnell, um noch rechtzeitig abstoppen zu können, hetzte an dem Gestrüpp vorbei, griff dabei jedoch instinktiv zur Pistole.
Etwas schoß hinter dem Busch hervor und entpuppte sich als menschliche Gestalt. Der Fremde packte mit zwei sehr großen Händen Dans rechten Fußknöchel. Dan ging zu Boden und glaubte das Knacken in seinem sich verdrehenden Bein zu hören, das sofort heftigen Schmerz auslöste.
Er überrollte sich zweimal zwischen den Büschen, blieb stöhnend auf dem Rücken liegen und wollte nun endlich seine Pistole zücken, doch der Fremde war über ihm und rammte ihm die Faust gegen die Kinnlade – gleich zweimal, so daß Dan nicht mehr die geringste Chance gegen ihn hatte.
Bevor ihm die Sinne schwanden, sah Dan noch das Gesicht des Angreifers über sich. Es war breit und hatte derbe Züge, die zu keinerlei Ausdruck fähig zu sein schienen und weder Haß noch Schadenfreude noch Genugtuung spiegelten. Nur in den kleinen, tiefliegenden grauen Augen schien ein mordlustiges Funkeln zu sein.
In Dans Kopf dröhnte und wirbelte es so stark, daß er für einen Augenblick glaubte, draußen in dem tödlichen Strudel zu treiben.
Dann deckte tiefe Finsternis jede Wahrnehmung zu.
Die Schiffsbewegung nahm Kapitän Fosco Sampiero mit. Er taumelte durch den Ruderraum nach vorn und prallte hart gegen die Querwand. Hinter ihm fluchten Venturi und die anderen, die mit an der Ruderpinne gearbeitet hatten. Es polterte über ihnen im Achterkastell.
Mit einemmal ertönte grell und stark verzerrt die Stimme des Zweiten Offiziers: „Kommt zurück nach oben! Es hat alles keinen Zweck mehr, wir sind im Strudel! Wir sinken, Santa Madonna, wir sinken! Rette sich, wer kann!“
Seine letzten Worte gingen in dem Schreien der Frauen unter.
Bianca Sampiero, Tosca Venturi und Ivana Gori hatten in der Kapitänskammer den Bootsmann Vittorio Medola in die Koje Sampieros gelegt. Sie hatten begonnen, die Wunde in seinem Rücken zu behandeln, so gut sie konnten, bevor der Feldscher erschien, nach dem die Frau des Kapitäns hatte rufen lassen.
Aber der Feldscher zeigte sich nicht, und die „Novara“ wurde von wilden Schlägen durchgerüttelt, die sie bis in die äußersten Verbände erzittern ließen. Wie durch eine unsichtbare Macht wurde Medola aus der Koje gehoben. Er landete auf dem Boden und rollte quer durch den Raum, hin und wieder zurück, als sich die „Novara“ ächzend zur anderen Seite neigte. Er hinterließ eine blutige Spur auf den Planken, seine Arme und Beine bewegten sich wie die Gliedmaßen einer Marionette.
„Santa Maria!“ schrie Ivana Gori. „Er ist tot. Tot, tot!“
„Sei still!“ rief Bianca Sampiero. Sie griff nach ihrer Hand und zerrte sie mit sich auf den Gang hinaus. Sie wollte um Hilfe rufen und nach ihrem Mann sehen, denn sie brauchte jetzt dessen Rat und Beistand, da auch sie die Fassung zu verlieren drohte.
Tosca Venturi war ausgerutscht und hingefallen. Sie stieß auf dem Boden mit Medolas schlaffer Gestalt zusammen und schrie entsetzt auf.
Fosco Sampiero stürmte mit seinen Helfern nach oben, entdeckte seinen Zweiten Offizier im Mittelgang der Hütte und ging sofort direkt auf ihn los. Gori gebärdete sich wie ein Verrückter, er hatte die Nerven verloren.
Sampiero packte ihn bei den Rockaufschlägen und schüttelte ihn hin und her. „Sind Sie wahnsinnig, hier so herumzuschreien?“ fuhr er ihn an. „Sie machen alles nur noch schlimmer, Sie Hornochse!“
„Lassen Sie meinen Mann los!“ schrie Ivana Gori. Sie versuchte, sich von Bianca Sampiero loszureißen, doch es gelang ihr nicht.
Die „Novara“ trieb im Strudel und neigte ihren Bug immer weiter nach unten. Auf dem Hauptdeck glitten die Männer aus. Sie mußten sich an den Nagelbänken und an Tauen und Wanten festhalten, um nicht nach vorn und über die Back weg in den tödlichen Trichter gerissen zu werden.
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