Sampiero bahnte sich einen Weg zwischen den aufgeregt durcheinanderrufenden Männern hindurch. Er wollte zu Emilio Venturi und den anderen stoßen und ihnen beim Herumdrücken der Ruderpinne helfen. Er spürte, wie die Panik auch ihn mit eisigkalten Klauen packte und nicht mehr losließ.
Hinter den Palmen der Westbucht erstreckte sich im Inselinneren ein breiter Streifen Savanne, der mit Dornengebüschen und niedrigen Kakteen durchsetzt war. Hasard und seine sieben Männer mußten diese Landschaft erst durchqueren und in die üppiger bewachsenen Hügel aufsteigen, um auf Wasser zu stoßen.
Ihr Marsch nahm jedoch nicht sehr viel Zeit in Anspruch, da sie gut vorangelangten, und so entdeckten sie, noch ehe die Dämmerung einsetzte, eine Quelle, die zwischen flachen Steinen hervorsprudelte und sich zu einem Rinnsal entwickelte.
Der Fund der Quelle fiel mit einem Geräusch zusammen, das von Nordosten zu ihnen herüberdrang und wie ein gedämpfter Peitschenschlag klang.
„Ein Schuß, Sir“, sagte Bill. „Und wieder diese Schreie. Diesmal habe ich mich ganz bestimmt nicht getäuscht. Ich wäre bereit, meinen Kopf dafür hinzuhalten, daß es ein Pistolenschuß war.“
„Schon gut, Bill“, sagte der Seewolf. „Ich habe ihn auch gehört, und jetzt höre ich auch die Schreie. Verdammt, da scheint sich jemand in der Klemme zu befinden.“
„Im Busch schlagen sich die Wilden gegenseitig die Köpfe ein“, brummte Old O’Flynn. „Und ich werde keinen Sand essen.“
„Du wiederholst dich“, sagte Shane. „Aber erstens ist es fraglich, ob die Eingeborenen – wenn es welche gibt – Schußwaffen besitzen, und zweitens könnten das Geschrei und das Schießen auch von See her kommen. Womit also noch lange nicht bewiesen wäre, daß die Insel bewohnt ist.“
„Du weißt immer alles besser, wie?“
„Ich glaube schon.“
„Aufhören, ihr beiden“, sagte der Seewolf. „Hört zu. Ich will jetzt endlich wissen, was hier gespielt wird. Wir trennen uns. Shane, Ed und Dan gehen mit mir. Wir steigen in die Berge nördlich der Bucht auf und halten mit dem Kieker Ausschau nach Nordosten, dann werden wir ja rauskriegen, was los ist. Ihr anderen bleibt hier. Wenn wir bei Dunkelwerden nicht zurück sind, gehen zwei von euch zur Bucht und alarmieren Ben Brighton. Die beiden anderen bleiben hier und behalten die Quelle als Orientierungsmarke im Auge. Wenn wir nicht pünktlich zurückkehren, soll Ben gefechtsklar machen und einen Trupp von sechs bis acht Männern an Land schicken, der nach uns sucht. Klar?“
„Klar, Sir“, antwortete Old O’Flynn stellvertretend für alle anderen. „Ihr solltet aber zusätzlich zu euren Waffen auf jeden Fall noch ein paar Höllenflaschen mitnehmen, ehe ihr euch in die verfluchten Berge raufwagt.“
„Hast du denn welche, Donegal?“
„Sicher.“ Der Alte grinste und griff in den Wams. „Ich hab mir gleich vier von den Dingern geben lassen, als wir von Bord unserer alten Lady gingen. Ferris hat ja wieder einen ganzen Vorrat gebastelt, und auch er fand, es wäre eine gute Idee, die Flaschen nicht so nutzlos rumliegen zu lassen. Wer weiß, vielleicht können wir sie noch gut gebrauchen.“
Hasard mußte lachen. „Ihr Himmelhunde, euch juckt es wohl in den Fingern, was? Na los, gib schon her, Donegal, zwei davon nehme ich mit.“
Der Alte war plötzlich ernst geworden. „Nimm sie lieber alle vier. Im übrigen wäre ich froh, wenn’s beim Jucken in den Fingern bleibt. Du verstehst schon, was ich meine, Sir.“
„Gewiß. Aber du solltest dir keine übermäßigen Sorgen bereiten. Vereinbaren wir ein Zeichen: Wenn wir beim Anbruch der Dunkelheit einen Schuß abfeuern, bedeutet das, wir sind wohlauf und befinden uns auf dem Rückweg, so daß ihr uns nicht zu suchen braucht. Geben wir zwei Schüsse ab, heißt es, daß wir Hilfe brauchen.“
„Aye, Sir“, sagte Sam Roskill. „Und was immer auch geschieht, wir hauen euch heraus, verlaß dich drauf.“
Sie wechselten noch ein paar eher belanglose Worte, dann gingen Hasard, der Profos, Big Old Shane und Dan O’Flynn davon. Sie achteten darauf, nicht in den tiefgrünen, undurchdringlich wirkenden Busch zu geraten, der sich über den Hügelkuppen erhob, und setzten sich als Ziel den größten Berg im Norden, der bald schon sehr nah vor ihnen lag.
Das Geschrei drang immer noch mit dem Wind aus Nordosten an ihre Ohren, und es drängte sie zur Eile. Sie begannen zu laufen und hasteten einen langgezogenen Hang hinauf, an dessen oberem Ende Hasard den Rand eines Plateaus zu erkennen meinte.
Der Sog griff nach Roi Lodovisis Beinen. Mächte der Finsternis schienen ihn zu regieren und hatten offenbar entschieden, daß der Profos seiner Strafe für das, was er getan hatte, nicht entging.
Das Wasser war angenehm kühl, doch Lodovisi spürte, wie er am ganzen Leib zu schwitzen begann. Er schwamm mit energischen, weit ausholenden Zügen und kämpfte gegen die Strömung an, die ihn in ihr gierig schlürfendes, beängstigend kreisendes Zentrum reißen wollte. Er rang mit ihr um sein Leben und war kurz davor, zu schreien, denn er sah Zorzo, Prevost und die anderen mehr und mehr Abstand gewinnen.
Sie waren schon mehr als eine halbe Kabellänge von der Bordwand der „Novara“ entfernt und flohen zum Riff, ohne sich auch nur noch einmal umzusehen.
Lodovisi war nicht sicher, ob sie wirklich nicht bemerkt hatten, in welchen Schwierigkeiten er sich befand – oder ob sie nur so taten, als sei es ihnen nicht aufgefallen. Er verfluchte sie, er biß sich vor Wut auf die Unterlippe, und er kämpfte verzweifelt weiter.
Jeder ist sich selbst der Nächste – hatte er ihnen diesen Leitsatz bei ihren geheimen Zusammenkünften an Bord der Galeone nicht immer wieder vorgebetet?
Er hatte es geschafft und die „Novara“ der Verrichtung preisgegeben, weil er sie niemals mehr in seinen Besitz bringen konnte. Aber: Wenn er jetzt selbst ein Opfer seiner Meuterei wurde, welchen Wert hatte das dann gehabt?
Er hatte das deutliche Gefühl, auf der Stelle zu schwimmen. Nicht mehr lange, denn bald ließen seine Kräfte nach. Dann siegte der Strudel, der die „Novara“ bereits in seinen Bannkreis gezogen hatte.
Lodovisi blickte sich nach der Galeone um. Er hatte sich nach seinem Sprung von der Galionsplattform an Steuerbord befunden, aber jetzt schwenkte das Schiff herum und richtete den Bugspriet nach Süden, so daß sich das Heck mehr und mehr ihm, dem Profos, näherte.
Sampiero, Venturi und den anderen unten im Achterdeck war es gelungen, tatsächlich das ramponierte Ruder herumzudrücken, und der Kapitän versuchte nun, an Backbord des Trichters vorbeizugehen, weil er auf dieser Seite mehr Chancen hatte, gleichzeitig auch der Falle des Riffs zu entgehen und vorsichtig nach Süden abzulaufen. An Steuerbord des Soges, also näher zur Küste der Insel hin, standen die Chancen, nicht auf die nahen Korallenbarrieren zu laufen, eins zu hundert.
Lodovisi rechnete damit, daß die Männer, die er verraten und im Stich gelassen hatte, auf ihn schießen würden, vielleicht sogar mit einem der Bordgeschütze, doch dies trat nicht ein. Man schenkte ihm nicht mehr die geringste Beachtung, alle Aufmerksamkeit, alles Schreien, Fluchen und Beten bezog sich auf den Todesstrudel.
Plötzlich schwang die „Novara“ ganz mit dem Heck herum und vollführte eine gleichsam groteske Bewegung im Wasser – viel zu schnell für ein so schwerfälliges Schiff. Lodovisi, der jetzt angestrengt mit den Beinen strampelte, sah als erster, was geschah: Die Strömung zog die Galeone in die mörderische Umlaufbahn. Das Manöver mit der Ruderpinne hätte vielleicht noch etwas genutzt, wenn der Dreimaster nicht auch in seinem Frachtraum beschädigt worden wäre, so aber hatte die „Novara“ bereits derart viel Wasser gezogen und lag so tief in den Fluten, daß auch die kühnste Aktion des besten Kapitäns ihr nicht mehr aus dem Wirbel herausgeholfen hätte.
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