„Keine Spuren“, sagte er. „Batuti nichts finden. Buschmänner müssen Flügel haben wie Sir John.“ Mit beiden Armen ahmte er die Flugbewegungen des Aracanga-Papageis nach und verzog sein knochiges Gesicht zu einem breiten Grinsen.
Doch seine Gesichtszüge wurden jäh wieder ernst. „Da!“ sagte er und deutete zum Dschungelrand hinüber. „Batuti hat etwas gesehen.“
Seine muskulöse Gestalt straffte sich, und in diesem Moment glich er einem sprungbereiten Löwen, der seine Beute ins Auge gefaßt hat.
„Was hast du gesehen?“ knurrte Ed Carberry. „Ein Bilgengespenst vielleicht?“
„Nix Gespenst“, sagte Batuti, der unverwandt zu der scheinbar undruchdringlichen grünen Mauer hinüberstarrte. „Es war kleines, braunes Mann. Es hat uns gesehen, dann schnell wieder weg. Batuti hat gute Augen. Sieht nix Gespenster. Da – wieder braunes Gestalt“, setzte er hinzu.
Noch während die übrigen Männer angestrengt zum Waldrand hinübersahen, ohne etwas Auffälliges wahrzunehmen, geriet Leben in die schwarze Gestalt Batutis.
Ohne noch ein Wort zu sagen, schnellte der Mann aus Gambia wie ein Pfeil von der Sehne los und jagte mit langen Sprüngen auf das Mangrovendickicht zu.
Der kleine Piratentrupp unter der Führung Miguel Camaros hatte den Tapir, den sie den Indianern abgejagt hatten, fachgerecht ausgenommen.
Nun banden sie dem Tier die Füße zusammen und hängten es an ein langes, kräftiges Aststück. Ibrahim, der Türke, und ein Araber namens Abdullah packten die Last und legten sich die Stangen über die Schultern. Die übrigen Männer sicherten mit ihren Waffen den Transport, der sich rasch in Bewegung setzte, und zwar in Richtung Küste, wo in ihrem Beiboot bereits ein erlegtes Wasserschwein und verschiedene Früchte auf sie warteten.
Obwohl der Weg beschwerlich war und den Piraten der Schweiß in Strömen über den Körper rann, versuchten sie, so rasch wie möglich ihr Ziel zu erreichen. Sie achteten kaum auf die Scharen von lästigen Insekten, die ihnen brennende und jukkende Bißwunden beibrachten und auch nicht auf die Zweige, die ihnen blutige Striemen ins Gesicht schlugen.
Der Grund für ihre Eile war nicht schwer zu erraten. Er lag bei den kleinen, nackten Gestalten, denen sie den Tapir abgejagt hatten. Und José, einer der brauchbarsten Männer an Bord der „Esmeralda“, hatte dafür mit dem Leben bezahlt. Er war einen harten, grausamen Tod gestorben, verursacht durch einen vergifteten Pfeil, der ihm in die rechte Schulter gefahren war.
Obwohl auch José einen Indianer durch einen Musketenschuß getötet hatte, war Miguel Camaro davon überzeugt, einen schlechten Tausch abgewickelt zu haben. Sie hatten zwar weisungsgemäß einen Tapir erbeutet, aber dafür war ein Mann auf der Strecke geblieben.
Was würde wohl ihr Kapitän, Alfredo Fernandez, dazu sagen? Diese Frage schwebte, wenn auch unausgesprochen, über ihm. Nicht etwa, daß der Señor Capitán am Kummer und Gram über den Tod Josés zerbrechen würde, o nein, aber an Bord der „Esmeralda“ zählte nach wie vor jeder Mann, der mit seinen Waffen umzugehen verstand. Und so marschierte der kleine Trupp von fünf Männern mit gemischten Gefühlen seinem Ziel entgegen.
Miguel Camaro führte die Gruppe an. Fernando und Manuel, zwei Landsleute bildeten die Nachhut. Dazwischen marschierten Ibrahim und Abdullah mit dem erlegten Tapir.
Miguel Camaro schätzte, daß sie bereits die Hälfte ihres Weges zurückgelegt hatten, als ihn plötzlich ein markerschütternder Schrei herumfahren ließ.
Es war Fernando, der diesen Schrei ausgestoßen hatte, und die Ursache war ganz offensichtlich.
Der große, breitschultrige Mann taumelte, versuchte dann, sich an einem Ast festzuhalten, aber seine Hände griffen vorbei. Dann sank er langsam, mit einem erstaunten Gesichtsausdruck, zu Boden und rührte sich nicht mehr. Aus seinem Rücken ragte der Schaft eines Pfeils. Nicht eines kleinen Giftpfeils, sondern eines Pfeils, der mit einem Bogen abgeschossen worden war.
„Bei Allah, das waren Indianer!“ stieß Abdullah, der Araber, hervor.
Wie auf Kommando ließen die beiden Träger den ausgenommenen Tapir auf den Boden fallen. In Windeseile drückten sich die Männer ins Dickicht, die Musketen schußbereit in den Händen.
Aber sie sahen und hörten nichts, außer den Geräuschen des Dschungels, an die sich ihre Ohren bereits gewöhnt hatten. Trotzdem wußten sie, daß irgendwo hinter ihnen im dichten Gestrüpp kleine, aber muskulöse Gestalten lauerten – jederzeit bereit, den lautlosen Tod zu ihnen zu schicken.
„Verdammt, die Buschmänner werden immer angriffslustiger“, zischte Miguel Camaro den anderen Piraten zu. „Vor einiger Zeit sind sie über einen einzigen Musketenschuß noch so erschrocken, daß sie sich nie mehr blicken ließen. Jetzt wollen sie wohl den offenen Kampf. Sie haben anscheinend Verstärkung geholt und sind uns gefolgt.“
„Allah sei uns gnädig“, flüsterte Abdullah, der Araber, und die Züge seines Gesichtes verrieten nackte Angst. „Ein Seegefecht wäre mir zehnmal lieber. Da sieht man wenigstens seinen Feind vor sich. Aber hier – hier lauert ein unsichtbarer Tod in unserem Rücken.“
„Nun laß nicht gleich deine Hosen flattern, du Ratte“, gab Miguel Camaro mit leiser Stimme zurück. „Sieh lieber zu, daß du deinen Eierkopf auf den Schultern behältst, statt hier vor Angst zu schlottern.“
Im selben Augenblick sah Camaro ungefähr dreißig Yards entfernt eine kleine, nackte Gestalt hinter dem Stamm einer Chonta-Palme verschwinden. Sofort riß er seine Muskete hoch, und gleich darauf krachte der Schuß. Aber zu spät, von dem Indianer war nichts mehr zu sehen. Die Kugel mußte den Stamm der Palme gestreift haben, denn man konnte sehen, wie einige Holzsplitter zur Erde geschleudert wurden.
Ein Papageienschwarm war durch den Schuß aufgescheucht worden. Laut schnatternd und kreischend stoben die Vögel aus dem Geäst über den Piraten und hoben sich in den Himmel. Auch das Gebrüll der Affen klang plötzlich lauter und aufgeregter.
Aber sonst rührte sich nichts. Trotzdem waren die Indianer da. Niemand zweifelte daran, und es war ein nervenzerfressendes Gefühl, sich aus vielen Augen beobachtet zu fühlen, ohne selbst jemanden zu sehen.
„Los!“ sagte Miguel, der Anführer. „Pirschen wir uns vorsichtig etwas näher an sie heran. Wir müssen sie erwischen oder in die Flucht schlagen, sonst werden wir sie nicht mehr los. Sie folgen uns unter Umständen wie unsichtbare Schatten bis zur Küste. Bevor wir uns versehen, haben wir wie Fernando einen Pfeil im Rücken oder, was noch schlimmer ist, einen dieser kleinen Giftpfeile irgendwo im Fleisch.“
Abdullah murmelte irgend etwas in einer Sprache, von der Miguel Camaro kein Wort verstand. Es mußte wohl Arabisch sein, und mit ziemlicher Sicherheit mußte er wiederum Allah beschworen haben, sich seiner doch endlich zu erbarmen.
Aber die für himmlisches Erbarmen zuständige Stelle mußte bei dieser Affenhitze wohl auch geschlossen haben, denn nichts ließ darauf schließen, daß sich an der bestehenden Lage etwas veränderte.
Vorsichtig krochen die vier übriggebliebenen Piraten durch das Dikkicht. Dann verhielten sie wieder einen Moment lauschend.
Da plötzlich schnellte sich die braune Gestalt wieder hinter dem Stamm der Palme hervor und schoß flink wie eine Katze auf das dichte Gestrüpp zu seiner Linken zu.
Ibrahim, der Türke, der die ganze Zeit über recht schweigsam gewesen war, reagierte als erster. Ein Schuß aus seiner Muskete krachte, und die Kugel traf.
Die braune Gestalt stürzte zu Boden, raffte sich aber sofort wieder auf und verschwand hinkend im Gebüsch.
Miguel Camaro stieß einen langen Fluch aus. „Warum hast du nicht besser gezielt? Der Kerl ist nur angeschossen. Selbst in diesem Zustand sind die Burschen noch gefährlich.“
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