Noch während eine Breitseite der „Isabella“ zu dem Piratenschiff hinüberbrüllte und verheerende Schäden anrichtete, gab der Seewolf den Befehl, hart nach Steuerbord abzulaufen, bis nur noch das Heck der „Isabella“ den Angreifern zugewandt war.
Dann traten auf sein Zeichen hin noch einmal die achteren Drehbassen in Aktion, und das schien die Piraten wohl endgültig davon zu überzeugen, daß sie sich etwas zu viel vorgenommen hatten, als sie den schlanken Rahsegler in der Bucht von Marajo erblickt hatten.
Weitere Schlappen konnten sie sich jedenfalls nicht mehr leisten. Gegen dieses englische Schiff, das – wie sie wohl erkannt hatten – unter dem Befehl des legendären „Lobo del Mar“, des Seewolfs, stand, konnten sie sich im Moment keinerlei Chancen mehr ausrechnen. Deshalb zögerten die verwegenen Gestalten an Bord der „Esmeralda“ auch keinen Augenblick, die Befehle ihres Kapitäns zu befolgen.
„Heißt Blinde und Marssegel!“ brüllte eine Stimme so laut, daß sie auf der „Isabella“ zu hören war.
Und die Seewölfe wußten sehr wohl, was dieser Befehl zu bedeuten hatte: Die Piraten gaben auf und suchten jetzt schleunigst ihr Heil in der Flucht. Wahrscheinlich befürchteten sie für ihr schwer angeschlagenes Schiff das Schlimmste.
Ein zufriedenes Grinsen zog über die verschwitzten Gesichter der Männer an Bord der „Isabella“. Bis jetzt hatten sie im Eifer des Gefechtes die brütende Hitze, die über der Bucht und dem Dschungel lag, kaum wahrgenommen. Erst jetzt, da die Piratengaleone die Flucht ergriff und sie sich wieder etwas mehr auf sich selbst konzentrieren konnten, merkten sie, daß der Schweiß nicht nur in Rinnsalen und Bächen über ihre Körper lief, sondern in Strömen. Trotzdem hielten sie sich nicht zurück, dem fliehenden Seeräuberschiff noch ein lautes „Ar-we-nack“ hinterherzubrüllen. Nur hörte sich dieser Schlachtruf diesmal wie eine Trompete des Sieges an.
Auch Ed Carberry, der bullige Profos der „Isabella“, zog ein zufriedenes Gesicht.
„Ho, war das etwa nichts, Männer?“ rief er. „Der fetten ‚Esmeralda‘ haben wir doch anständig was auf den Achtersteven gegeben. Diese verlausten Kakerlaken werden sich bestimmt nicht mehr in unserer Nähe blicken lassen. Wenn sie es trotzdem tun, dann werde ich jedem einzelnen von ihnen eigenhändig die Haut in ganz schmalen Streifen …“
Der Rest der vom Profos angekündigten Zeremonie ging im Lachen der Seewölfe unter, die sofort damit begannen, auf der „Isabella“ die Spuren des kurzen Kampfes zu beseitigen.
Die Mittagszeit war nicht mehr fern, und die Sonne würde bald ihren höchsten Stand erreichen. Unbarmherzig verwandelte sie das Land, das nur achtzig Seemeilen südlich des Äquators liegt, in eine schwüle Dunstglocke.
Auf der „Isabella“, der ranken Galeone der Seewölfe, war bereits kurze Zeit nach dem Gefecht mit den Piraten wieder Ruhe eingekehrt.
Die meisten Schäden waren belanglos und würden sich rasch beseitigen lassen. Die Männer hatten sofort damit begonnen, nachdem die „Esmeralda“ schwer angeschlagen aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden war.
Es wäre ein Leichtes für den Seewolf gewesen, das fliehende Seeräuberschiff zu verfolgen und auf Grund zu schicken, aber gemäß seiner Auffassung hätte ein solches Verhalten, wenn kein zwingender Grund vorlag, den Regeln der Fairneß widersprochen. Die Piranhas hatten angegriffen, und ihr Angriff war kräftig zurückgeschlagen worden. Allein die panische Flucht der dickbauchigen Galeone war ein Beweis dafür, daß den Schnapphähnen vorerst jegliche Angriffslust vergangen war.
Sofort nach dem Verschwinden der „Esmeralda“ hatte Hasard Befehl gegeben, zum ursprünglichen Ankerplatz zurückzukehren. Die Mannschaft der „Isabella“ wollte schließlich noch ein Rätsel lösen, das die Männer, nachdem das kurze Gefecht vorbei war, erneut zu beschäftigen begann – das Rätsel um die menschlichen Skelette in der wrakken Galeone. Mittlerweile sahen sie eine Aufgabe darin, dieses Geheimnis zu lüften. Und davon wollten sie sich auch von der sengenden Hitze nicht abhalten lassen.
Hasard ließ das Beiboot abfieren.
Als Sir John, der Aracanga-Papagei, das sah, verließ er sofort die Vormarsrah und schwang sich zur Kuhl hinunter. Sein Ziel war die linke Schulter Ed Carberrys, mit dem ihn eine besonders enge, wenn auch manchmal rauhe Freundschaft verband.
„An die Brassen!“ krächzte der Vogel. „Hopp, hopp, ihr lahmen Säcke!“ Dabei äugte er neugierig zu den Männern hinüber, die das Beiboot ins Wasser brachten. Da ihm die Arbeit offensichtlich zu langsam vonstatten ging, setzte er noch ein wütendes „Affenärsche! Rübeschweine!“ hinzu, bis ihn Ed Carberry von seinem Landeplatz vertrieb.
Aber auch Sir John war von der harten Sorte, und der Profos mußte sich von der Großrah herunter klipp und klar sagen lassen, daß er „backbrassen“ solle.
Als Ed Carberry drohend die Fäuste nach oben schwang, zog es der karmesinrote Papagei vor, auf seinen Lieblingsplatz, hoch oben auf der Vormarsrah, zurückzukehren.
Hasard benannte inzwischen den kleinen Landtrupp, der unter seiner Führung zur Sandbank hinüberpullen sollte.
Außer Ed Carberry waren diesmal Stenmark, Matt Davies und der schwarze Herkules Batuti mit dabei.
Ferris Tucker, der sich während des gestrigen Landausfluges ebenfalls mit dem gefährlichen Mohrenkaiman herumgeschlagen hatte, wurde noch an Bord der „Isabella“ gebraucht, um die Holzschäden auszubessern, die während des Piratenangriffs an der Balustrade zwischen Back und Galionsdeck entstanden waren.
Philip und Hasard, die Zwillinge, hatten sich inzwischen an ihren Vater herangepirscht.
„Dad“, sagte Philip junior mit hoffnungsvollem Blick, „hast du nicht einmal gesagt, daß es nicht genügt, seinen Kopf nur mit vielen Theorien vollzustopfen, sondern daß man vor allem auch die Praxis kennenlernen muß?“
Für einen Moment sah der Seewolf seinen Sprößling irritiert an. „Ja – ja, natürlich, du hast recht. Aber was bezweckst du mit dieser Frage?“
„Nun ja“, erklärte Philip junior, „Mister Brighton hat uns gestern erzählt, daß es hier viele Tiere gibt. Ich meine, außer dem riesigen Krokodil, mit dem ihr gekämpft habt. Und da dachten wir, daß wir – nun ja, wir könnten uns natürlich entsprechend bewaffnen …“
„Aha!“ sagte Hasard. „Daher also weht der Wind, von wegen Theorie und Praxis. Tut mir leid, ihr beiden, auf die Praxis werdet ihr heute noch mal verzichten müssen. Die werdet ihr noch früh genug kennenlernen. Wenn wir da rüberpullen, dann ist das eine Fahrt ins Ungewisse. Wir haben keine Ahnung, was dort drüben geschehen ist und was uns dort erwartet. Vorerst brauchen wir zwei starke Männer wie euch noch dringend hier an Bord. Was ist, wenn noch einmal ein Piratenschiff hier auftaucht? Mister Brighton ist dann auf jeden Mann an Bord angewiesen, auch auf euch, zumal er euch schon einmal an den Drehbassen eingesetzt hat.“
Im ersten Augenblick zeigten die beiden Zehnjährigen ein enttäuschtes Gesicht. Aber dann, als sie die Worte ihres Vaters, der von starken Männern und von Drehbassen sprach, verdaut hatten, blickten sie plötzlich stolz in die Runde. Daß sie auch nicht eher darauf gekommen waren! Klar, daß sie an Bord der „Isabella“ gebraucht wurden. Völlig logisch, was sollte sonst Mister Brighton ohne sie nur anfangen?
„Aye, aye, Sir!“ sagten die beiden wie aus einem Munde, und damit war der Fall vorerst erledigt.
Philip Hasard Killigrew nahm als Bootsführer auf der achteren Ducht des Beibootes Platz, nachdem der kleine Trupp von der „Isabella“ abgeentert war. Die übrigen Männer legten sich kräftig in die Riemen.
„Ob wir heute wohl mehr Glück haben als gestern?“ fragte Ed Carberry. Seine Augen glitten dabei über die glitzernde Wasserfläche.
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