Betroffen sahen sich die Männer an. Hatten sie nicht noch vor wenigen Augenblicken über die Gefährlichkeit der Giftpfeile gesprochen? Und hatte nicht gerade José seinen Unmut darüber geäußert? Jetzt lag er da – mit gebrochenen Augen, deren Blick sich in der endlosen Weite des blauen Himmels verlor.
„Fernandez wird toben“, sagte Miguel, „denn José war ein vielseitig verwendbarer Mann. Aber wir können es nicht mehr ändern. Da hätte er eben besser aufpassen müssen. Los, sehen wir zu, daß wir ihn notdürftig begraben. Und dann wird der Tapir ausgenommen und zum Beiboot getragen, verstanden? Und beeilt euch gefälligst, sonst kann es passieren, daß wir noch die ganze Meute auf den Hals kriegen.“
Sofort gingen die vier übrigen Männer an die Arbeit, nicht ohne von Zeit zu Zeit innezuhalten und verstohlene Blicke zum Waldrand hinüberzuwerfen.
Die schweren Eisenkugeln, die das Piratenschiff abgefeuert hatte, verfehlten ihr Ziel nur um Haaresbreite. Zwei der Kugeln klatschten unmittelbar vor der Steuerbordseite der „Isabella“ ins Wasser und rissen hohe, gischtende Fontänen auf.
„Laßt uns die passende Antwort geben!“ brüllte Philip Hasard Killigrew vom Achterdeck. „Feuer!“
Augenblicklich war in der stillen und scheinbar so friedlichen Baja de Marajo, in der einige Urwaldflüsse zusammenströmten und ihre ungeheuren Wassermassen in den Atlantik ergossen, die Hölle los.
Kaum hatte der Seewolf den Schießbefehl erteilt, dröhnte der vielstimmige Schlachtruf seiner Crew zu dem angreifenden Piratenschiff hinüber.
„Ar-we-nack – Ar-we-nack!“ tönte es aus rauhen Männerkehlen. Und im selben Atemzug sollten die Angreifer zu spüren kriegen, was dieser Schlachtruf zu bedeuten hatte.
Die acht Siebzehnpfünderculverinen auf der Steuerbordseite der „Isabella“ brüllten los und stießen mit ungeheurer Wucht ihre Ladungen aus den Rohren. Die Culverinen rollten zurück, und grauschwarze Wolken von Pulverdampf zogen über die Kuhl.
Während eine Kugel die Schmuckbalustrade auf dem Achterdeck des Piratenschiffes wegfegte und einen Trümmerregen auf das Wasser der Bucht niedergehen ließ, zerfetzte eine weitere Kugel den Besanmast und ließ den Angreifern die Holzsplitter um die Ohren fliegen. Ein drittes Geschoß schlug der Galeone, deren Name „Esmeralda“ nur mit Mühe zu entziffern war, ein Loch in die Bordwand, und zwar direkt unterhalb eines Geschützes.
Laute Flüche und Wutgeschrei drang zu den Seewölfen herüber. Dazwischen ertönte ein erschreckter Ausruf, der an Bord der „Isabella“ deutlich zu verstehen war.
„El Lobo del Mar! Das ist El Lobo de Mar, Señor Capitán“, brüllte eine Stimme auf Spanisch. Die Piraten mußten also begriffen haben, mit wem sie sich da angelegt hatten.
Aber es blieb ihnen nur wenig Zeit, darüber weiter nachzudenken, denn Ed Carberry und der Kutscher hatten inzwischen die Lunten in die Zündlöcher je einer der beiden vorderen und achteren Drehbassen gestoßen. Unmittelbar darauf prasselte ein verheerender Regen aus Eisenstücken zu der dickbauchigen Galeone hinüber.
Als Folge wies das Focksegel der „Esmeralda“ ein wüstes Lochmuster auf, und zwei Gestalten mit Stirnbinde und zerlumpten Leinenhosen schrien auf und gingen hinter dem Schanzkleid auf die Planken.
Aber auch die Piraten waren inzwischen nicht untätig gewesen. Offensichtlich hatten sie ihre Geschütze inzwischen nachgeladen.
Seit der überraschte Ausruf „El Lobo del Mar!“ die Besatzung des Piratenschiffes aufgeschreckt hatte, erreichten die Aktivitäten an Bord der „Esmeralda“ einen Zustand der Hektik. Dazu trugen sicherlich auch die geballten Ladungen bei, die ihnen die Seewölfe bis jetzt verpaßt hatten.
Eine solch rasche und verheerende Reaktion hatten sie von der „Isabella“, die sie wahrscheinlich für ein spanisches Handelsschiff gehalten hatten, nicht erwartet. Trotzdem schienen sie nach wie vor entschlossen zu sein, den Kampf für sich zu entscheiden.
Zum zweiten Male krachten die Geschütze des Piratenschiffes und schickten ihre Ladung zur „Isabella“ herüber.
Diesmal zerfetzte eine Kugel teilweise die Balustrade, die die Back zum Galionsdeck hin abgrenzte.
Eine weitere Kugel ließ den Profos der „Isabella“, der an einer achteren Drehbasse auf Station war, rasch den Kopf einziehen. Und diese Reflexbewegung war es wohl auch, die ihn vor ernsterem Schaden bewahrte. Die übrigen Geschosse waren zu kurz gesetzt und peitschten das Wasser in unmittelbarer Nähe der „Isabella“ auf.
Noch während die Culverinen der „Isabella“ ausgewischt und nachgeladen wurden, begannen wieder die Drehbassen auf dem Vorder- und Achterdeck, die außer von Ed Carberry und dem Kutscher noch von Old O’Flynn und Ben Brighton bedient wurden, Feuerstöße zur „Esmeralda“ hinüberzuschicken.
„Jawohl, zeigt es ihnen!“ schrie der Profos, der um Haaresbreite dem Verhängnis entgangen war. „Zeigt diesen Bilgengespenstern, was passiert, wenn man mit Eisenbröckchen nach uns wirft. Ho, Leute, drauf auf diese Kanalratten!“
Wenig später entlud sich auch seine Drehbasse wieder mit heftigem Krachen und einer Wolke von Pulverdampf.
Schreie, die von dem Piratenschiff herüberdrangen, zeigten, daß der Feuerregen nicht ohne Folgen geblieben war. Die Löcher im Focksegel hatten sich inzwischen reichlich vermehrt.
Ein wüstes Gebrüll in mehreren Sprachen war die Antwort. Gleich darauf gingen die Seewölfe in Dekkung, um dem Metallsegen der beiden PiratenDrehbassen zu entgehen. Die Geschosse richteten jedoch außer einigen geringfügigen Schäden am Besansegel nicht viel an.
Der wilde Haufen an Bord der „Esmeralda“ mußte inzwischen nervös und hektisch geworden sein. Man nahm sich kaum noch die Zeit, ein Ziel anzuvisieren und brachte sich damit in eine Gefechtssituation, die den Seewölfen absolut fremd war.
Die Männer an Bord der „Isabella“ kannten keine Kopflosigkeit. Jeder Handgriff, den sie taten, war überlegt, erprobt und sorgfältig abgewogen. Das war es, was sie ihren Gegnern voraushatten.
Auch Big Old Shane und Batuti, der schwarze Mann aus Gambia, hatten nur auf ein Zeichen des Seewolfs gewartet. Sofort schnellten die ersten beiden Pulverpfeile von den Sehnen ihrer Bogen und zogen eine Rauchspur hinter sich her.
Die Wirkung blieb nicht aus. Augenblicke später bereits waren die Detonationen zu hören, gleich darauf züngelten an vielen Stellen der „Esmeralda“ kleine Flammen hoch.
Aus der Hektik an Bord des Piratenschiffes entstand Wuhling. Erstaunte Rufe tönten über das Deck, und eine hohe Stimme brüllte nach Wasser. Gleich darauf konnte man beobachten, wie einige Männer über die Kuhl rannten und eine Pütz Wasser nach der anderen anschleppten, um das auflodernde Feuer zu löschen.
Eine Entscheidung stand dicht bevor.
Philip Hasard Killigrew rechnete damit, daß die Piraten, sobald sie das Feuer unter Kontrolle hätten, gewissermaßen in einem letzten Aufbäumen versuchen würden, die Isabella zu entern. Aber dem wollte er rechtzeitig einen Riegel vorschieben.
„Feuer!“ tönte wieder die Stimme des Seewolfs über die Decks der „Isabella“.
Der schwarzhaarige, fast sechs Fuß große Mann stand wuchtig wie ein Denkmal auf seinem Platz und beherrschte souverän die Lage. Nicht zuletzt diese eiserne Ruhe und Besonnenheit waren es, die immer wieder auf seine Männer übergriffen und sie selbst in den kniffligsten Situationen veranlaßten, Ruhe zu bewahren und mit Verstand vorzugehen. Seine sachkundige Führung und die Ergebenheit seiner Leute war es, was die Crew der „Isabella“ zu einer Mannschaft zusammengeschweißt hatte, die weder Tod noch Teufel fürchtete.
Es war nicht von ungefähr, daß die englische Königin Elisabeth I. diesen Mann, der über einen Kaperbrief verfügte, zum Ritter geschlagen hatte. Philip Hasard Killigrew wußte diese Geste zwar zu schätzen, legte aber keinerlei Wert darauf, Sir Hasard genannt zu werden. Was er von seinen Männern erwartete, war keine kriecherische Ergebenheit, sondern eine aufrichtige Partnerschaft. Und die war stets auf der „Isabella“ zu finden, bis hin zum letzten Mannschaftsglied.
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