Nein, hier hatte sich etwas anderes abgespielt, den Mann umgab ein Rätsel, das De Aragon gern gelöst hätte.
Er blickte wieder in das Gesicht des Mannes, der sich jetzt unruhig hin und her bewegte.
„Wird er es überleben, Miguel?“ fragte der Capitan den Mann, der sich um den Unbekannten kümmerte.
„Er hat hohes Fieber und die Auszehrung. Ich weiß nicht, ob er die nächsten Stunden überleben wird.“
„Sie werden alles tun, damit er überlebt.“
Lopez blickte den Capitan an.
„Anweisung zum Weitersegeln, Capitan?“ fragte er leise.
„Nein. Vorerst noch nicht.“ De Aragon winkte ab. „Wir kreuzen hier und tasten uns dabei an die Insel heran, bis wir Ankergrund haben. Das wäre alles. Lassen Sie die Mannschaft in der Kuhl zusammentreten, Lopez.“
„Si, Senor!“
Lopez wunderte sich, weil er nicht wußte, was der Capitan plante.
Etwas später starrten einundzwanzig Männer stumm auf den Mann im Schatten, der mehr als halbtot war.
De Aragon schritt die Front der Mannschaft ab. Die Hände hatte er auf den Rücken gelegt.
„Seht euch diesen Mann genau an“, befahl er. „Versucht, ihn euch ohne Bart vorzustellen, etwas voller im Gesicht. Hat ihn schon mal jemand gesehen?“
De Aragon wollte sich Gewißheit verschaffen, ob er es hier mit einem Besatzungsmitglied der „Nuestra Madonna“ zu tun hatte oder nicht. War das nicht der Fall, hatte er auch keine Lust, weitere Nachforschungen anzustellen. Kannte ihn aber jemand aus seiner Crew, und das war sogar höchst wahrscheinlich, weil die Kerle ständig zusammengehockt hatten, dann wollte er das Geheimnis um das spanische Schiff lüften, koste es, was es wolle.
Geduldig wartete er ab und drängte keinen, auch wenn sie lange vor dem Mann standen und ihn anblickten.
Andererseits vermochte De Aragon sich nicht vorzustellen, daß es sich um fremde Männer handelte. Wie sollten die wohl zu dem Beiboot gekommen sein?
Ein Mann meldete sich.
„Verzeihung, Senor“, sagte er, „ich bin mir nicht ganz sicher, aber es könnte Virgil sein, ein Seemann aus dem Norden Spaniens. José glaubt auch, ihn zu kennen.“
„Vortreten, alle beide!“
Gehorsam traten die beiden Männer heran.
„Hatte dieser Virgil irgendein besonderes Kennzeichen? Habt ihr mal etwas bemerkt? Seht ihn euch genau an, ich will wissen, was hier vorgefallen ist.“
„Virgil hatte die Ohrläppchen durchstochen, Senor Capitan. Ein Feldscher hat ihm gesagt, daß er dann besser hören würde, er war auf einem Ohr fast taub.“
„Seht nach, ob das stimmt!“
Der eine kniete sich hin, schob die langen strähnigen Haare zur Seite und nickte sofort. Als er auch das andere Ohr durchstochen fand, richtete er sich auf.
„Er ist es, kein Zweifel, Senor Capitan.“
„Du bist deiner Sache sicher?“
„Ganz sicher, ich weiß es.“
In diesem Augenblick schlug der Mann die Augen auf. Sie waren seltsam klar, aber es hatte den Anschein, als sähe er nichts, denn sein Blick ging durch die Männer, die ihn schweigend umstanden, hindurch in unbekannte Fernen.
Mühsam verzog er die Lippen, bis seine schwärzlichen Zahnstummel sichtbar wurden.
„Schnell weg, Steuermann“, sagte er klar und deutlich, „sonst töten sie uns.“ Sein Mund verzerrte sich noch mehr. „Wasser“, hauchte er, „die anderen geben mir keins.“
Sie flößten ihm wieder Wasser ein, vorsichtig, in kleinen Schlucken.
Dieser Virgil scheint ein unglaublich zäher Bursche zu sein, dachte der Capitan. Er sah aus, als wäre er schon vor ein paar Tagen gestorben, aber seine Stimme klang unwahrscheinlich klar. Er stammelte auch nicht, aber nachdem er getrunken hatte, fiel er wieder in sich zusammen und blieb erschöpft liegen.
„Bringt ihn nach achtern in meine Kammer“, befahl De Aragon. „Du bleibst bei ihm, und wenn er noch etwas getrunken hat, flößt du ihm Brühe ein, aber nicht zuviel, damit er sich nicht übergibt.“
Während Virgil nach achtern gebracht wurde, studierte De Aragon zusammen mit dem ersten Offizier die Seekarten.
„Irgendwo hier, ganz in der Nähe vielleicht, muß etwas Schreckliches mit dem Schiff passiert sein“, sagte De Aragon. „Vermutlich ist das Schiff von Wilden angegriffen worden, oder Piraten haben es überfallen.“
Er fuhr mit dem Finger die Karte entlang.
„Das hier ist die Insel Kalimantan 1), eine sehr große und völlig unerforschte Insel, die die ‚Nuestra Madonna‘ auf südwestlichem Kurs passiert hat. Den Karten nach gibt es hier ein gigantisches Inselreich, und deshalb werden wir an der Küste entlangsegeln, bis wir zwischen diesen beiden Inseln hier den Weg in den Indischen Ozean gefunden haben. Ich werde damit aber warten, bis dieser Mann zu Kräften kommt, damit er uns die Geschichte erzählen kann. Ich möchte laufend über seinen Zustand unterrichtet werden, Lopez.“
„Si, Capitan. Eine Frage bitte.“
„Fragen Sie!“
„Was geschieht, wenn wir herausfinden, daß Wilde das Schiff angegriffen haben?“
De Aragon lächelte hochmütig. Seine Mundwinkel krümmten sich verächtlich.
„Daß Sie diese Frage überhaupt stellen, Lopez. Eine Antwort darauf erübrigt sich fast, und Sie werden sich diese Antwort auch denken können. Selbstverständlich werden wir zu einer Strafexpedition rüsten und dieses anmaßende Gesindel bis auf den letzten Mann ausrotten. Das geschieht in diesem Fall im Auftrag seiner Allerkatholischsten Majestät, des Königs von Spanien.“
„Aber – aber“, stotterte Lopez, „wir haben doch keinen regulären Auftrag dazu.“
„Einen derartigen Auftrag haben wir immer, Lopez“, sagte De Aragon überheblich. „Das ergibt sich von selbst.“
Lopez kannte seinen Capitan. De Aragon behandelte seine Leute nicht gerade schlecht, aber er verstand keinen Spaß, wenn es um unerforschte Länder oder Eingeborene ging. Dann heimste er im Auftrag der Krone alles zusammen, ohne Rücksicht auf Verluste, und dann war für ihn alles Gesindel, dem man Anstand beibringen mußte. Zumeist brachte er ihnen diesen Anstand mit den Schiffskanonen bei, und der Rest wurde von den Seeleuten besorgt, einfachen Männern, die nicht im Kriegsdienst standen.
Bei Lopez war das anders. Er verabscheute Gewalt, und es war ihm peinlich, sich das von den Einheimischen zu nehmen, was ihnen nicht zustand, und sie anschließend auch noch zu „bekehren“, wie De Aragon sich ausdrückte.
Andererseits, überlegte Lopez, geschah diesen Wilden ganz recht, wenn sie sich anmaßten, Schiffsbesatzungen zu überfallen, die vielleicht nichts anderes wollten als Trinkwasser und Proviant.
Er grübelte über das Thema nicht weiter nach. Auf diese Art behielt er ein ruhiges Gewissen, denn alle Entscheidungen nahm De Aragon ihm ohnehin ab.
Einen Ankerplatz fanden sie jedoch nicht. Rings um die Insel fiel der Meeresboden steil ab in unergründliche Tiefen, und an die Insel selbst traute De Aragon sich nicht heran, aus Angst, die „Tierra“ würde auf ein unsichtbares Riff laufen.
„Was ist mit Ihnen, Lopez?“ hörte er die harte Stimme des Capitans neben sich. „Sie haben doch etwas auf dem Herzen, Sie wollen etwas loswerden, nicht wahr?“
Für Lopez war das Thema Strafexpedition längst erledigt. Er brauchte nur Befehlen zu gehorchen, aber etwas anderes beschäftigte ihn seit einer ganzen Weile.
„Ja, ich – ich wollte zuerst nicht darüber sprechen. Es handelt sich um diesen Virgil.“
De Aragon beugte sich neugierig vor.
„Ja – was ist mit ihm?“
„Ich weiß nicht recht, Capitan, aber da war noch der andere Tote auf der Insel.“
„Lassen Sie mich keine Rätsel raten, Lopez. Reden Sie, was hat es mit dem Mann auf sich?“
„Dem anderen Mann fehlten ein Bein und der Arm.“
De Aragon kniff die Augen zusammen. Sein Gesicht verschloß sich.
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