Zu sehen gab es nicht viel. Dicht am Wasser lag eine umgestürzte Palme, ein paar Büsche befanden sich in der Nähe und etwas Dunkles lag in Wassernähe.
Aber sie alle hatten deutlich einen Knall gehört, dessen Ursprung nur von dieser kleinen Insel stammen konnte.
De Aragon gab dem Rudergänger Befehle, und die Galeone, die mit achterlichem Wind auf Südostkurs lief, ging in den Wind und luvte an.
„Es muß jemand auf dieser Insel sein“, sagte De Aragon zu seinem ersten Offizier. „Jeder von uns hat diesen Schuß gehört.“
„Si, Capitan“, erwiderte Lopez, „der Schuß war deutlich zu hören, aber vielleicht war es die Palme am Strand, die umstürzte und diesen Knall vortäuschte.“
De Aragons Lippen wurden zwei schmale Striche.
„Verursachte, wollten Sie sagen, Senor Lopez“, verbesserte der Capitan. „Aber es geht schlecht an, daß eine Palme umstürzt und man den Knall erst sehr viel später hört. Lassen Sie dort vorn Anker werfen. Nehmen Sie das Boot, zwei Männer und rudern Sie hinüber. Ich will wissen, was da vorgeht.“
Lopez nickte, schüttelte aber anschließend sofort den Kopf.
„Wie soll dort jemand überleben, Capitan?“ fragte er leise.
„Das weiß Gott allein, Lopez, deshalb werden wir nachsehen.“
Die Tiefe in Inselnähe ließ sich nicht aussingen, es mußten mehr als hundert Faden sein. De Aragon verzichtete auf das Ankermanöver und ließ die „Tierra“ in den Wind gehen.
Lopez und zwei Männer bestiegen etwas später das Boot und pullten durch mäßig bewegte See dem Inselchen entgegen.
De Aragon lehnte am Schanzkleid des Achterkastells und verfolgte das Geschehen mit dem Spektiv. Die anderen Männer der Crew blickten ebenfalls zu dem Landstrich hinüber.
Der Ausguck wurde gewechselt, der Posten enterte ab und ließ sich beim Capitan melden.
„Es ist möglich, daß ich mich täusche, Senor Capitan“, sagte er, „aber es hat den Anschein, als läge auf der anderen Seite der Insel ein kleines Boot. Man kann über die Insel blikken, aber ein paar Sträucher verdekken die Sicht.“
„Sie sind sich nicht sicher?“
„Nein, deshalb verzichtete ich auf eine Meldung. Wenn es ein Boot ist, dann ist es nicht größer als eine Nußschale.“
„Lopez wird es entdecken“, murmelte der Capitan, „er wird die Insel ganz sicher umrunden.“
Lopez ließ zuerst auf den Strand zuhalten. Die Insel veränderte ihr Gesicht, sobald man näher heranpullte. Anfangs sah sie langgestreckt aus, dann wieder beschrieb sie einen Bogen. Jedenfalls wanderte die umgestürzte Palme aus seinem Blickfeld. Es hatte den Anschein, als wandere sie heimlich davon.
Verblüfft über das Phänomen schüttelte er den Kopf. Die Insel ließ er dabei keine Sekunde aus den Augen.
„Da liegt jemand“, sagte er laut, und die beiden Seeleute wandten die Köpfe, um an Land zu blicken.
„Weiterpullen!“ herrschte Lopez sie an. „Etwas mehr nach Backbord, ihr Strolche!“
Das Boot lief knirschend auf den Strand, und Lopez sprang mit einem Riesensatz in den körnigen Sand.
Zwischen niedrigen Büschen erkannte er eine Gestalt und zuckte zusammen, als er das Gesicht und den Körper sah.
Die beiden Seeleute, die ihm schweigend gefolgt waren, bekreuzigten sich hastig. Breitbeinig blieben sie vor dem ausgemergelten Mann stehen, der sich nicht rührte.
Neben ihm im Sand lag eine Muskete, aus der der kürzlich erfolgte Schuß stammen mußte.
Aber hatte dieser Mann überhaupt noch die Kraft gehabt, eine Muskete abzufeuern? Seinem Zustand nach zu urteilen, war das einfach unmöglich.
Sein Gesicht war eingefallen wie das einer Mumie, die Augen lagen in tiefschwarzen Höhlen, und ein struppiger, mit Sand verklebter Bart bedeckte sein ausgemergeltes Gesicht, von dem Hautfetzen herunterhingen. Der Mann bestand fast nur noch aus Haut und Knochen, überall an seinem Körper waren eitrige Wunden zu sehen.
„Ein Landsmann von uns“, sagte Lopez erschüttert. Er sah es an der zerfetzten Kleidung, die ebenfalls nur noch aus traurigen Resten bestand.
Er bewegte sich nieder, horchte an der Brust des unbekannten Mannes und richtete sich wieder auf, nachdem er schweigend genickt hatte.
„Er lebt noch, wahrscheinlich ist er halb verdurstet und verhungert, und vielleicht kriegen wir ihn nicht mehr durch. Aber der Capitan wird sicher gern seine Geschichte hören. Nehmt ihn vorsichtig auf und bringt ihn ins Boot. Einer bleibt bei ihm, der andere geht mit mir zur Südseite hinüber.“
Unendlich vorsichtig wurde der Bewußtlose aufgehoben und zum Boot getragen, wo sie ihn hinlegten.
Normalerweise hätte Lopez jetzt schnellstens zurückkehren müssen, denn jede Minute zählte für den Unbekannten. Aber er sagte sich, daß es jetzt auch nicht mehr darauf ankäme, denn genausogut hätten sie die Insel ja auch etwas später anlaufen können.
Mit eiligen Schritten lief er voraus, bis er die Insel zur Hälfte umrundet hatte.
Dann sah der Seemann, wie Lopez stehenblieb, als hätte ihn eine unsichtbare Faust getroffen.
Daß dort ein kleines Boot lag, registrierte er fast nur im Unterbewußtsein. Aber er sah den Mann oder vielmehr das, was von ihm noch übrig war, und er schluckte hart.
Vor ihnen im Sand lag ein Gerippe, an dem nur noch ein paar Fetzen ausgedorrtes Fleisch hingen. Reste einer zerfetzten Hose bedeckten die unteren Knochen.
Lopez sagte kein Wort, stumm blickte er auf das Gerippe und wandte sich dann um, um nach dem Boot zu sehen. Dabei fiel sein Blick auch auf die umgestürzte Palme, und er entdeckte die Schalen von zerschlagenen Kokosnüssen.
„Furchtbar“, stammelte der Seemann. „Sie hatten kein Wasser und nichts zu essen. Dann lieber im Kampf fallen.“
„Du sagst es“, murmelte Lopez.
Das Boot war leicht angeschlagen, es zog Wasser, aber es war noch bedingt seetüchtig. Am Heck fand er den Namen und zuckte unwillkürlich zusammen.
„Nuestra Madonna“, stand da in leicht verwaschener Farbe.
„Schnell, zurück an Bord“, sagte er, drehte sich um und lief los. Er achtete nicht darauf, ob der Seemann ihm folgte.
‚Nuestra Madonna‘, dachte er immer wieder, als er in das Beiboot sprang. Der Spanier aus Cadiz war mit ihnen zusammen vor mehr als zwei Jahren losgesegelt. Das letzte Mal hatten sie ihn auf einer der japanischen Inseln getroffen.
Etwas Furchtbares mußte geschehen sein. Vielleicht war der Mann im Boot, der sich jetzt stöhnend bewegte, der einzige Überlebende der ganzen Mannschaft.
Sie pullten sofort los, mit allen Kräften legten sie sich in die Riemen.
Der Unbekannte wurde nach oben gehievt, dann enterte auch Lopez auf, gefolgt von den beiden Seeleuten.
De Aragon blickte aus schmalen Augen auf den halbtoten Mann, dann sah er seinen Ersten an.
„Erzählen Sie!“
„Wir fanden ihn zwischen Büschen, er war es, der die Muskete abgefeuert hat, Capitan. Noch ein Mann befindet sich auf der Insel, aber er ist schon seit einigen Tagen tot. Die beiden stammen von der ‚Nuestra Madonna‘!“
Der Capitan, ein hagerer schlanker Mann von vierzig Jahren, zuckte sichtlich zusammen.
„Von der ‚Nuestra Madonna‘ stammen sie? Woher wissen Sie das?“
„Am Strand liegt ein kleines Beiboot, auf dem der Name steht. Die beiden haben es hoch auf den Sand gezogen, aber es ist leck.“
Inzwischen hatte der Capitan Anweisung gegeben, daß sich der einzige Mann an Bord, der etwas von Medizin verstand, um den Kranken kümmern solle.
Jetzt wurde Virgil in den Schatten gelegt, und man flößte ihm kleine Schlukke Wasser ein.
De Aragon stand mit abwesendem Blick dabei, und versuchte sich in Gedanken auszumalen, was hier passiert sein mochte.
Ein Beiboot mit zwei Männern, die eine Muskete bei sich hatten und hier auf dieser kleinen Insel gelandet waren, mußten nicht unbedingt Meuterer gewesen sein, die man ausgesetzt hatte. Dann hätten sie sicher nicht das Boot behalten dürfen. Außerdem pflegte der Capitan der „Nuestra Madonna“ Meuterer an die höchste Rah des Schiffes hängen zu lassen. Der Capitan war in der Beziehung nicht zimperlich.
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