Aber auf der kleinen Insel gab es keine Tiere. Kein Vogel war zu sehen, nichts regte sich zwischen den kleinen Pflanzen.
Er war allein in einer unwirklichen Stille, allein mit Antonio, der sich so heimlich davongeschlichen hatte. Vielleicht bin ich der einzige Mensch auf der Welt, dachte er, wenn er einen lichten Augenblick hatte.
Immer wieder irrte er umher, blickte sehnsüchtig zu den Kokosnüssen und kratzte mit dem abgebrochenen Messer weiter am Stamm der Palme.
Am dritten Tag hatte er es immer noch nicht geschafft. Der Stamm war teilweise zerfetzt, aber er fiel nicht um, und er gab auch nur noch ein paar Tropfen von dem Saft her, der sein Leben rettete.
Müde, mit knurrendem Magen erklomm er die kleine Erhebung der Insel und blickte sich aus glanzlosen Augen um.
Wasser, wohin das Auge sah. Wasser, auf dem goldene Strahlen tanzten, das von silbrigen Wellen glitzerte, Wellen so klein wie krause Haare.
Ein Schreck durchzuckte ihn plötzlich, als er das Schiff sah.
Es lief mit vollen Segeln aus nördlicher Richtung genau auf die Insel zu. Es war ein Dreimaster, der eine mächtige Bugwelle vor sich herschob. Und die Segel waren so prall vom Wind gefüllt, daß die Masten sich unter dem Druck bogen.
Es ging nur kein Wind, überlegte Virgil. Wie konnte das Schiff also so schnell segeln?
Mit klopfendem Herzen lief er zum Strand hinunter und wartete. Doch als er einmal einen Blick auf Antonio warf und dann wieder zum Meer blickte, war das Schiff verschwunden.
Er konnte es nicht glauben, suchte wieder den Hügel auf, sah nach allen Himmelsrichtungen. Nichts, es gab kein Schiff, es hatte nur in seiner Phantasie existiert, oder er war einem Trugbild zum Opfer gefallen.
In der Nähe der Palme lag ein ekelhafter süßlicher Geruch in der Luft, der sich wie eine Wolke am Boden ausgebreitet hatte.
Sein leerer Magen drehte sich um, es würgte ihn, und als er ein paar Schritte in Antonios Richtung ging, wußte er, woher der ekelhafte Geruch stammte. Die Sonne zersetzte Antonios Körper.
Apathisch aß er von den Fasern des Palmenstammes, kaute sie und schlang sie hinunter. Danach ging er wieder an die Arbeit, aber der Geruch wurde immer unerträglicher.
Er hielt es schließlich nicht mehr aus, so übel wurde ihm, aber er konnte diesen Platz auch nicht verlassen, denn nur hier hingen die halbreifen Kokosnüsse.
Also mußte Antonio weg.
Es kostete ihn außer Kraft auch Überwindung, den toten Steuermann an den Armen zu packen und ihn ins Wasser zu schleifen. Dabei hatte Antonio immer noch dieses höhnische Grinsen im Gesicht, als lache er ihn aus.
Erst im Wasser wurde der Körper leichter. Virgil ging so weit mit ihm hinaus, bis er nicht mehr stehen konnte. Dann ließ er den Steuermann treiben, der auch gleich unterging.
Jetzt konnte er seine mühevolle Arbeit fortsetzen, doch kaum hatte er den Strand erreicht, als er Getümmel im Wasser sah. Um die Stelle, an der Antonio versunken war, huschten Schatten hin und her.
„Haie“, sagte er heiser. „Gott sei deiner armen Seele gnädig, Steuermann!“
Bis zum Abend hatte er es immer noch nicht geschafft, die Palme zu fällen, und so gab er es für heute auf. Morgen würde der Stamm stürzen, er schwankte jetzt schon, wenn man an ihm rüttelte.
Doch in dieser Nacht fand Virgil nur wenig Schlaf und warf sich alle Augenblicke unruhig hin und her. Er hatte Angst, denn er sah, wie der Steuermann wieder an den Strand zurückkehrte und dicht am Wasser liegenblieb. Ein Bein und der rechte Arm fehlten.
Auch am nächsten Morgen lag er noch so da, und Virgil verfluchte ihn und die Haie, die es nicht geschafft hatten, ihn draußen zu behalten.
Verbissen nahm er sich wieder den Stamm vor. Der Durst ließ ihn halb wahnsinnig werden, an den nagenden Hunger dachte er nicht mehr. Nur einen Schluck Wasser, einen winzigen nur, so betete er ständig vor sich hin.
Gegen Mittag schrie er vor Freude laut auf. Im Stamm war ein hartes Knakken zu hören, die Palme neigte sich und stürzte dann in den Sand.
Virgil fühlte sich wie neugeboren, als er zu dem großen Wedel rannte und wie ein Irrer, laut kreischend, grüne Kokosnüsse abriß. Er warf sie in die Luft, tanzte herum und lachte, riß immer wieder die Arme hoch und gebärdete sich wie toll.
Mit feierlichem Ernst ging er daran, eins der drei Löcher mit dem Messerstumpf aufzubohren. Dann setzte er die Nuß an die Lippen und trank gierig, schlürfte und schmatzte.
Zu seiner grenzenlosen Enttäuschung gab sie nicht viel her. Es war wirklich nur ein winziger Schluck, nicht einmal ein Mundvoll. Doch er labte ihn, und so zerschlug er die Nuß und fiel gierig über das harte Fleisch her. Die leeren Schalen warf er in den Sand und öffnete die nächste, etwas später die dritte.
Erst nach der vierten Nuß sah er sich ernüchtert um. Jetzt hatte er noch sieben, mehr hatte die Palme nicht getragen.
Wenn er jeden Tag nur eine Nuß aß, konnte er sieben Tage überleben, rechnete er sich aus. Trieb er es aber so wie heute, dann war seine Zeit in zwei Tagen abgelaufen, denn die Nüsse an den beiden anderen Palmen, die noch auf der Insel wuchsen, waren erst winzig klein und noch lange nicht reif. Diese hier schien einen besonders günstigen Standort zu haben.
An einem der nächsten Tage ging die Veränderung mit Antonio rapide voran. Sein Fleisch zerfiel und die Knochen wurden sichtbar. Dieser grausige Anblick veranlaßte Virgil, auf die andere Seite der Insel zu gehen. Begraben konnte er den Steuermann nicht, dazu fehlte ihm jegliches Gerät, und mit den Händen ein Loch in den steinigen Sand zu buddeln, dazu konnte er sich nicht durchringen, denn dann mußte er ihn anfassen.
Seine restlichen drei Kokosnüsse nahm er mit und hütete sie wie einen kostbaren Schatz.
Aus den mittlerweile trockenen Wedeln der Palme hatte er sich im Sand ein Lager bereitet, in das er abends hineinkroch und sich wie ein krankes Tier versteckte.
Er wußte nicht, wie es weitergehen sollte. Noch fühlte er sich einigermaßen wohl, das Fieber hatte sich nicht mehr gemeldet, aber die grelle Sonne ließ seine Haut aufplatzen und überall kleine Wunden entstehen.
Immer wieder achtete er auf Wolken, die Regen versprachen, doch wenn wirklich mal eine am fernen Horizont auftauchte, dann war sie etwas später schon wieder verschwunden.
Wie lange er sich jetzt auf der Insel befand, wußte er nicht mehr. Vielleicht eine Woche? Er hatte jeglichen Zeitbegriff verloren.
Danach ging es ständig mit ihm bergab. Ein paar Tage war er, wie in Trance versunken, auf der Insel herumgelaufen, dann wieder beschäftigte er sich stundenlang mit dem Pulver und der Muskete. Einen Sinn darin sah er nicht, er konnte keine Tiere jagen und die Muskete auch nicht verwenden. Dennoch gab er sich mit einem Eifer der Sache hin, der an Wahnsinn grenzte.
Mitunter verlor Virgil das Bewußtsein, wachte dann irgendwo am Strand wieder auf und begriff nicht, wo er sich befand. Er starrte auf das Gerippe des Steuermanns und sprach mit ihm.
„Wir müssen zurück, Steuermann“, sagte er dann, „die warten bestimmt nicht länger auf uns. Los, steh auf!“
Da Antonio keine Anstalten unternahm, aufzustehen, brüllte und schrie er mit ihm, nannte ihn einen gottlosen Nichtstuer und faulen Lumpenhund, der sich nur ausruhen wollte, ohne an seine Pflicht zu denken.
Wahnsinn befiel ihn. Er sah Schiffe auf dem Meer fahren, sah Seeleute, die ihm zuwinkten, und erblickte große Fässer an Deck, die mit klarem frischen Wasser gefüllt waren. Und als er bittend die Hände ausstreckte und ihm niemand etwas zu trinken gab, nahm er die Muskete und feuerte auf das Schiff.
Danach brach er zusammen.
Der Kapitän der Zweimastgaleone „Tierra“, Jesus Maria de Aragon, blickte seit einer Viertelstunde durch das Spektiv und musterte das lächerlich kleine Eiland, das sich an Backbord befand.
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