Zu Recht, denn die verließ soeben den Bohlenweg, stieg seitlich über den niedrigen Drahtzaun, obwohl zahlreiche Hinweistafeln das Betreten des Schutzbereichs verboten, und bog in die Randdünen ab. Einige Urlauber schüttelten die Köpfe, die meisten aber kümmerten sich nicht darum, und schon gar keiner machte den Versuch, sie aufzuhalten. Abstecher in die geschützten Dünen galten als Kavaliersdelikt, solange man sich dort gesittet verhielt und keine Lagerfeuer entzündete oder wilde Partys feierte.
Heiden passierte die Stelle, an der das Mädchen abgebogen war, und schlenderte weiter, ohne sie auch nur eines Seitenblicks zu würdigen. Ein paar Dutzend Schritte weiter hockte er sich hin, um sich nun doch seiner Leinenschuhe und der hellgrauen Socken zu entledigen. Im Aufstehen blickte er sich wie von ungefähr um, stellte fest, dass sich gerade niemand in seiner Nähe befand, und bog ebenfalls in die Dünen ab.
Der weiche Sand schien an seinen Füßen zu saugen, während er energisch voranstapfte. Trotz des schweren Geläufs kam er flott voran. Wenig später war der Strandweg bereits außer Sicht.
Er hielt sich zwischen den knapp zwanzig Meter hohen, mit Quecke, Strandhafer und Sanddornsträuchern bewachsenen Sandhügeln, um kraftraubende Anstiege zu vermeiden und seine Deckung nicht zu gefährden. Wo sich eine Düne direkt vor ihm aufbaute, hielt er sich links. So müsste es klappen, schließlich war das Verfahren erprobt.
Und richtig, da war sie. Wie hingegossen lag sie auf einem blauen Badelaken, das sie am Fuß einer Düne ausgebreitet hatte. Wickelrock und Hemd hatte sie ausgezogen. Der hellrosa Bikini schien neu zu sein, jedenfalls kannte er ihn noch nicht. Das Oberteil war im Nacken geschnürt und formte ein atemberaubendes Dekolleté, und das Höschen war ziemlich knapp. Leise pfiff er durch die Zähne. Diese Sabrina verstand es wirklich, ihre körperlichen Vorzüge zu vermarkten.
Heiden ließ sich neben seine Schülerin auf das Badelaken sinken, sorgsam darauf bedacht, dass seine Gelenke nicht knackten, und beugte sich über sie. Ohne alle Umstände schlang sie ihre weichen Arme um seinen Nacken, zog ihn ganz zu sich heran und küsste ihn. Auch davon verstand sie etwas. Als sie wieder von ihm abließ, rang Heiden nach Atem.
Sie strahlte ihn an. »Klasse!«, sagte sie. »Ich freu mich so.«
Heiden lächelte geschmeichelt. »Ach, das war doch noch gar nichts«, erwiderte er, während seine langen Finger Sabrinas anmutig geschwungene Taille und Hüfte entlangfuhren. Er liebte es, diese zarte, elastische Haut mit den winzigen Flaumhärchen zu berühren, die golden vor dem zimtbraunen Untergrund flirrten. Bloß gut, dass die Tinnekens nicht diesem modischen Magerkeitswahn huldigte wie so viele ihrer Schulkameradinnen. Ihr Körper war trotzdem schlank und straff, dabei aber kein bisschen knochig, sondern griffig und geschmeidig, genau so, wie er es liebte.
Das Mädchen schaute ihn einen Augenblick lang verständnislos an. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte. »Nein, doch nicht der Kuss! Das habe ich doch nicht gemeint. Von der Amerikareise habe ich gesprochen!«
Pikiert richtete Heiden sich auf, stützte sich auf den linken Ellbogen und zog seine rechte Hand zurück. »Ja, klar. Die Reise. Habe ich doch gerne für dich getan.«
Ihr Lachen brach ab. »Du bist ja wohl nicht der Einzige, der etwas dafür getan hat«, sagte sie in scharfem Ton.
Heiden zuckte noch ein Stückchen weiter zurück. Da war er wieder, dieser selbstzufriedene Gesichtsausdruck, der ihm schon heute Vormittag im Haus der Insel aufgefallen war. Diesmal noch deutlicher, verstärkt durch einen Schuss Ärger über seine offenbar als Anmaßung empfundenen Worte. Ja, war denn dieses Mädchen, diese kindsköpfige junge Frau wirklich und wahrhaftig der Ansicht, ihr Chorleiter habe angesichts ihrer überragenden Leistungen gar nicht anders gekonnt, als sie mit Kusshand ins Amerika-Aufgebot zu berufen?
Dann dämmerte es ihm. Himmel, dachte er, wie blind war ich eigentlich. Dabei lagen die Fakten doch klar auf der Hand. An denen war nichts zu deuteln, die standen so fest wie die Noten einer Partitur. Der feine und entscheidende Unterschied aber lag in der Interpretation. Wie so oft. Und eben nicht nur in der Musik. Frühreifes, unerfahrenes junges Mädchen erliegt dem betörenden Charme eines erfahrenen Gentleman, lernt durch ihn die Liebe kennen und wird für ihre Hingabe mit einer schönen Reise belohnt – so hatte er die Sache gesehen. Jetzt sah er die Dinge mit Sabrinas Augen, und diese Perspektive trieb ihm trotz der wärmenden Herbstsonne kalte Schauer über den Rücken. Clevere, durchtriebene junge Frau will unbedingt ihren Ehrgeiz befriedigen, und weil die Sangeskunst allein dafür nicht ausreicht, setzt sie bedenkenlos auch ihren Körper ein. Und der geile alte Bock von Chorleiter ist eitel genug, sich darauf einzulassen und mit ihr in die Kiste zu steigen. Bums, schon ist die Amerikareise gebucht. Kein Wunder, dass das Früchtchen mit sich zufrieden war.
Er biss sich auf die Lippen. Na schön, dachte er, dann machen wir mal gute Miene und spielen das böse Spielchen auch zu Ende.
»Du hast recht«, sagte er in versöhnlichem Ton. »Hast dich mächtig ins Zeug gelegt. Respekt, meine Liebe. Deine Steigerung in den letzten Wochen war unverkennbar.«
»Wie meinst du das?« Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen. »In welcher Hinsicht gesteigert? Beim Singen oder …«
Diesmal zog er sie zu sich heran, strich ihr mit beiden Händen über Nacken und Wirbelsäule, so wie sie es gerne hatte, und küsste sie. Schließlich verstand auch er einiges davon, und der Zorn, den er auf Sabrina empfand, tat seiner Lust auf ihre jungen, weichen Lippen keinen Abbruch.
»Wo denkst du hin«, sagte er, als sie beide wieder Luft holen konnten. »Beim Singen natürlich. Was das andere angeht, wie willst du dich da steigern? Du bist doch ein absolutes Naturtalent!«
Sie lachte geschmeichelt und dockte ihren Mund erneut an seinem an.
Unglaublich, dachte er, was man diesen jungen Dingern so auftischen kann. Drei Nummern gröber geschmeichelt als die absolute Schmalzgrenze – ganz egal, die glauben einfach alles. Gierig ließ er seine Hände über ihre Haut wandern.
Sie löste ihr Gesicht von seinem, fragte atemlos: »Willst du? Hier, mitten in den Dünen?«
Wäre ja nicht das erste Mal, schoss es ihm durch den Kopf. Laut aber sagte er: »Lust hätte ich schon, aber ich weiß nicht, ob wir hier wirklich ungestört sind. Um uns tagsüber zu treffen, sind die Dünen ja ideal, da sind unsere Leute entweder am Strand oder im Ort, aber für alles andere … zu riskant. Lieber heute Abend. Ich habe uns wieder ein Zimmer besorgt. Wollen wir uns so gegen halb zehn treffen? Beim Dünenfriedhof, wie immer?«
»Ist gut«, sagte sie und ließ von ihm ab. Sie kramte in ihrer Strandtasche, förderte eine Plastikflasche Mineralwasser zu Tage und trank durstig. Dann hielt sie ihm die Flasche hin.
Früher hätte ich die Flasche zuerst bekommen, dachte Heiden grimmig. Aber er sagte nichts, sondern griff zu und lächelte dankend.
»Sag mal«, fragte Sabrina, während sie ihr Hemd wieder überstreifte, »was wird jetzt eigentlich mit Hilkes Platz im Chor? Du hast doch bestimmt schon einen Ersatz für sie im Auge, ganz egal, ob ihr nun etwas zugestoßen ist oder nicht. Ist doch so, oder?«
»Tja.« Er zögerte. »Von den Leistungen her wäre Theda Schoon wohl dran. Trotz ihres Patzers neulich.«
»Nee, nicht?« Sabrina richtete sich im Sitzen steil auf, ein einziges Stück Ablehnung. »Auf keinen Fall Theda! Jede andere, aber nicht die.«
»Na sag mal!«, fuhr Heiden auf. »Wie kommst du denn dazu, so etwas zu sagen? Ich kann doch wohl besser beurteilen, wer hier am ehesten die Leistung bringt, die wir …«
»Und ich kann wohl am ehesten beurteilen, auf wen du scharf bist!« Sabrinas Stimme wurde schneidend. »Glaubst du, ich merke nicht, wie die sich an dich ranschmeißt? Dir schöne Augen macht? Ich weiß ja, dass dir so etwas gefällt. Aber das kommt nicht in Frage. Auf gar keinen Fall.«
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