Hasard zählte die Stückpforten. „Zwölf“, sagte er. „Zwei Dutzend Geschütze führt unser Freund also, die Drehbassen oder Serpentinen nicht mitgerechnet. Eine kleine schwimmende Festung. Aber wer er ist, wissen wir immer noch nicht.“
Die Stückpforten der Galeone standen offen, die Mündungen der Kanonen schienen hämisch herauszugrinsen. Eine, die vorderste, spuckte plötzlich weißen Qualm aus. Er puffte hoch, das Geschoß heulte heran – Hasard und seine Männer gingen in Deckung.
Keine zehn Yards vor dem Bug der „Isabella“ stieg eine imposante Wassersäule hoch. Oben fächerte sie auseinander, dann fiel sie zischend in sich zusammen.
„Siebzehnpfünder!“ rief Al Conroy. „Da bin ich ganz sicher.“
„Und er hat Zielwasser getrunken, der Don!“ brüllte Carberry.
„Wer sagt dir denn, daß er ein Don ist, Ed?“ fragte Big Old Shane. Er stand unten auf der Kuhl dicht vor der Querwand des Achterkastells und hielt schon Pfeil und Bogen bereit. Wenn es zum Gefecht kam, wollte er schnell sein und wie der Wind in den Großmars aufentern.
„Ob Don oder nicht – den Arsch soll er sich versengen!“ brüllte der Profos.
„Er gibt sich immer noch nicht zu erkennen“, sagte der Seewolf.
Dan O’Flynn lehnte sich aus dem Großmars, legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und rief: „Er luvt an und will mit Nordwestkurs an den Wind gehen und abhauen!“
„Das verstehe ich nicht“, sagte Ben Brighton. „Erst fordert er uns heraus, dann kneift er.“
Hasard antwortete noch nicht, er spähte weiterhin durch das Spektiv. Als er dann aber sah, wie die Galeone tatsächlich anluvte und davonzog, erwiderte er: „Vielleicht denkt er, daß er draußen auf See leichteres Spiel mit uns hat. Tun wir ihm den Gefallen. Nehmen wir die Verfolgung auf.“
Er brauchte den Kurs um keinen Strich zu korrigieren. Während die Galeone ihnen das reich mit Ornamenten geschmückte Heck zuwandte, behielt Hasard strikt die Richtung bei und steuerte auf ihr Kielwasser zu.
Er wollte es jetzt genau wissen.
Was führte dieser geheimnisvolle Fremde im Schilde?
Ferris Tucker, der auf der Kuhl beim Laden und Richten der Geschütze mitgeholfen hatte, stieg gerade wieder aufs Achterdeck und wandte sich den beiden Drehbassen zu.
„Ferris!“ rief Hasard ihm zu. „Gib ein Signal an Siri-Tong. Sie soll noch in der Bucht bleiben.“
Ferris zeigte klar, und der Seewolf drehte sich zur Kuhl hin. „Ed, Vollzeug setzen!“
„Aye, Sir!“
Die Crew löste die Reffleinen von Großmars-, Vormars- und Kreuzsegel, und auch die Blinde unter dem Bugspriet wurde nun gesetzt. Mit prallem Zeug lag die „Isabella“ am Wind und krängte leicht nach Backbord. Ihr Bug teilte die See wie ein Pflug, sie nahm mehr und mehr Fahrt auf.
Die Jagd hatte begonnen.
„Ein schönes Schiff“, sagte Hasard noch einmal, als er erneut zu dem Unbekannten blickte. „Aber abhängen kann es uns nicht.“
Die Sonne stand als blutroter Riesenball tief über der Wasserfläche, als sie die große Insel passiert hatten. Jetzt geschah etwas Merkwürdiges. Der fremde Kapitän ging mit seinem Schiff durch den Wind und segelte nach Südosten. Auf diese Weise fuhr er genau in die Passage, die sich zwischen der großen Insel und ihren nördlichen Nachbarn ausdehnte.
Hasard war gezwungen, es ihm nachzutun. Für kurze Zeit lagen die Schiffe sich gegenüber, und er rechnete damit, daß die Galeone nun das Feuer eröffnete. Aber er hatte sich getäuscht.
Stumm zog das fremde Schiff bis dicht unter die nördliche Landzunge der großen, paradiesischen Insel. Dann ging sie wieder durch den Wind und steuerte nach Nordwesten.
„Überstag“, befahl Hasard. „Wir versuchen, ihm den Weg abzuschneiden!“
Wieder setzte die flinke Betriebsamkeit der Männer ein. Die „Isabella“ war kein behäbiger Kahn, sondern ein schneller, gewandter Segler unter ihren kundigen Griffen, der mit den Fluten verwachsen zu sein schien.
Fast gelang es dem Seewolf, den Geheimnisvollen zu erreichen. Nur ganz knapp rauschte dieser an ihm vorbei.
„Wir könnten ihm zwei Drehbassenschüsse verpassen!“ rief Old Donegal Daniel O’Flynn.
Hasard schüttelte den Kopf. „Du kennst doch meine Prinzipien. Er muß uns herausfordern.“
„Das hat er doch schon getan.“
„Das genügt nicht. Er muß das Feuer voll eröffnen, dann antworten wir“, sagte Hasard.
Der Alte knirschte mit den Zähnen und schnaubte durch die Nase. Er bezwang sich aber, noch etwas zu äußern. Gegen den Seewolf kannst du nicht anstinken, sagte er sich im stillen.
Wieder schwiegen die Kanonen auf dem anderen Schiff. Es glitt davon. Die Seewölfe hatten die Gelegenheit, es sich genau anzuschauen.
„Da ist keiner an Bord“, erklärte Matt Davies dumpf. „Das ist ein Geisterkahn, sag ich euch.“
„Abergläubisch?“ Gary Andrews lachte auf. „Mann, die Besatzung hält sich absichtlich versteckt. Die will uns foppen und zum Narren halten.“
„Aber warum?“ fragte Matt.
Carberry stand breitbeinig hinter ihm und brummte: „Das ist doch klar wie die Brühe, die der Kutscher kocht. Die Halunken da drüben denken, wenn sie uns erst genügend verwirrt haben, können sie uns übertölpeln.“
Hasard ließ wieder anluven und führte die Jagd hart am Wind weiter fort. Gespannt blickten er und seine Männer der Galeone nach – wie sie im Einsetzen der Dämmerung die am weitestens östlich liegende Nachbarinsel erreichte und das Ostufer rundete.
Plötzlich war sie verschwunden.
Hasard folgte ihrem Kurs genau. Das Inselufer glitt an Backbord dahin, wölbte sich weiter von der „Isabella“ fort und gab den Blick auf die weiter nördlich liegenden Zonen frei.
Aber das fremde Schiff war wie von der See verschluckt.
„Ich hab’s ja geahnt“, stieß Matt Davies betroffen hervor. „Hier spukt’s.“
Thorfin Njal und seine neun Männer hatten keine Schwierigkeiten gehabt, die Eingeborenenmädchen zu verfolgen. Deutlich waren die Spuren zu sehen: Niedergetretenes Gras, Fußstapfen im weichen Untergrund. Und immer wieder raschelte es verräterisch vor ihnen ihm Dikkicht.
Dann aber ertönte wie aus weiter Ferne ein Donnergrollen.
Thorfin Njal blieb stehen. Der Stör, der gleich hinter ihm marschierte, trat ihm fast auf die Hacken.
Sie verharrten alle, und Muddi meinte: „Teufel, schon wieder ein Erdstoß. Wenn das so weitergeht …“
„Unsinn“, sagte Eike. „Das war ein Kanonenschuß. Darauf gehe ich jede Wette ein. Übrigens wackelt die Erde auch gar nicht.“
„Stimmt“, entgegnete Thorfin Njal. „Bei allen Göttern – es hat Ärger in der Ankerbucht der Schiffe gegeben. Wir müssen sofort zurück. Kehrt marsch, Männer, unsere Leute brauchen bestimmt Hilfe.“
Er hatte die letzten Worte gerade ausgesprochen, und der Stör wollte sie getreu seiner Angewohnheit nachplappern, da raschelte es wieder im Gebüsch, diesmal ganz in ihrer Nähe. Dem Stör blieb das Echo im Halse stecken. Er packte den Griff seiner Steinschloßpistole. Die anderen zückten auch ihre Feuerwaffen.
Mike Kaibuk zuckte zusammen. Er hatte nach rechts geschaut und ein Augenpaar entdeckt, das ihn aus dem dichten Grün des Blättervorhangs anstarrte.
„Verdammt“, ächzte er, hob seine Muskete und wollte auf diese dunklen, forschenden Augen anlegen.
Thorfin Njal hatte den Kopf gewandt, sah aber nicht nur das eine Augenpaar, sondern auch ein zweites und das dazu gehörende Gesicht, dann eine Gestalt, die langsam aus den Sträuchern hochwuchs.
Überall, rund um die Zehner-Gruppe, erhoben sich jetzt braunhäutige Menschen. Sie standen in den Büschen, kauerten in Baumkronen, waren mit einemmal einfach da und betrachteten die Eindringlinge in einer Mischung aus Neugierde und Mißtrauen.
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