Der schwarze Segler und die „Santa Monica“ hatten die See leergefegt und zwei schwer bewaffnete Galeonen sowie drei Karavellen in einen Haufen treibender Trümmer verwandelt. Zwischen Planken, zerfetzten Schotts und Spieren und Resten von Segeltuch dümpelten Beiboote auf dem Wasser, deren Besatzungen sich bemühten, Überlebende an Bord zu ziehen.
Die Spanier befanden sich in einem Zustand heller Panik. Sie hatten den Eindruck, daß sämtliche Teufel der Hölle über sie hergefallen waren, um sie zu vernichten. Sie befürchteten jeden Moment, daß die Kanonen der beiden feindlichen Schiffe von neuem Feuer spucken und auch noch die Boote in Fetzen schießen würden – und es dauerte eine Weile, bis sie begriffen, daß die kleine Karavelle und der unheimliche schwarze Viermaster sie ziehen ließen.
Die „Santa Monica“ und der „Eilige Drache“ schwenkten wieder auf ihren alten Kurs ein.
Sie ließen ein Trümmerfeld hinter sich zurück und waren ziemlich sicher, daß sie mit den Spaniern zumindest in den nächsten Tagen keinen Ärger mehr kriegen würden.
Jean Morro, der Bretone, blieb ruckartig stehen.
Hinter ihm verharrte die ganze Kolonne, die sich seit Stunden durch den tropischen Urwald schlug. Die Männer waren erschöpft, halb verdurstet, fast am Ende ihrer Kraft. Sie hatten sich nach der Karte des alten Valerio gerichtet, aber je länger sie marschierten, desto größer waren ihre Zweifel geworden. Die meisten hatten wohl nicht mehr daran geglaubt, daß sie den geheimnisvollen Tempel mit dem Schatz tatsächlich finden würden – und jetzt lag dieser Tempel vor ihnen.
Es war ein gigantisches Bauwerk.
Unvermittelt und wuchtig wuchs es aus der Umklammerung des Urwalds hoch, eine Pyramide aus Steinquadern, zu deren Spitze eine endlos lange Treppe aus unzähligen Stufen hinaufführte. Am Fuß des Tempels krochen Ranken und Schlingpflanzen empor, als biete die Natur alle ihre Kräfte auf, um das Gebilde von Menschenhand wieder zu verschlingen. Das eigentliche Gebäude hoch oben auf diesem künstlichen Berg wirkte winzig aus der Entfernung.
Schweigend standen die Piraten im Schatten der letzten Baumriesen und starrten aus großen Augen zu den Säulen und Quadern des Tempels hoch. Selbst der primitivste unter den Männern fühlte sich seltsam angerührt angesichts dieses stummen Zeugen einer uralten Kultur, deren Macht und Reichtum sich nur noch ahnen ließen.
Dan O’Flynn wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah sich nach Batuti um, der als einer der letzten in der Kolonne marschiert war.
Der hünenhafte Gambia-Neger grinste unverdrossen und zeigte sein Raubtiergebiß. Auf dem ganzen Weg hatten die beiden Gefangenen vergeblich nach einer Chance gesucht, sich seitwärts in die Büsche zu schlagen.
Aber noch gaben sie nicht auf. Vielleicht kam ihre Stunde, wenn die Piraten hier tatsächlich einen Schatz fanden und im Taumel der Begeisterung nicht aufpaßten. Und selbst wenn es keinen Schatz gab, wenn alles vergeblich gewesen war – auch die Enttäuschung würde dazu führen, daß Jean Morros Halsabschneider in ihrer Aufmerksamkeit etwas nachließen.
Vorerst allerdings war es noch nicht so weit.
Der Bretone setzte sich in Bewegung, und Dan O’Flynn empfing einen Stoß mit der Musketenmündung in den Rücken. Esmeraldo, dachte er grimmig. Diesem einäugigen Schuft würde er bei Gelegenheit noch einiges heimzahlen. Mit zusammengebissenen Zähnen begann er die endlose Treppe hinaufzuklettern. Obwohl er ziemlich bepackt war, wirkten seine Bewegungen immer noch elastischer als die der meisten anderen.
Die Treppe kostete die Männer den letzten Rest ihrer Kraft.
Dan zählte die Stufen nicht, aber er nahm an, daß es Hunderte waren. Selbst der zähe Bretone wurde allmählich langsamer. Auf halber Höhe legte er eine Pause ein, und jetzt endlich fiel ihm ein, daß es ziemlich sinnlos war, die gesamte Ausrüstung bis auf die höchste Spitze der Pyramide zu schleppen.
Auch ohne Gepäck bewältigten sie die zweite Hälfte der Treppe nicht schneller als die erste.
Dan grinste in sich hinein, weil hinter ihm das Schnaufen und Keuchen des bulligen Barbusse immer heftiger wurde. Auch Pepe le Moco und der einäugige Esmeraldo hatten sichtlich und vor allem hörbar Konditionsschwierigkeiten. Lediglich Jacahiro, der Maya, glitt die steinernen Stufen so leichtfüßig hinauf, als habe er das seit Jahren jeden Tag trainiert. Jean Morro und die anderen kostete es Mühe, ihm zu folgen.
Fast eine halbe Stunde war vergangen, als die Männer keuchend und erschöpft die oberste Plattform des Tempels erreichten.
Der Schatten eines säulengeschmückten Vorbaus nahm sie auf. Jacahiro betrachtete einen Moment die schwere Tür mit den geheimnisvollen eingeschnitzten Symbolen. Das bronzene Gesicht des Maya hatte sich gespannt: zum erstenmal, seit Dan und Batuti ihn kannten, zeigte er so etwas wie Furcht oder hatte doch zumindest seine unerschütterliche Gelassenheit verloren.
Sekundenlang zögerte er, als habe er Angst davor, an etwas Verbotenem, etwas Gefährlichem zu rühren. Dann hob er die Rechte, tastete über eine bestimmte Stelle des Tors, und wie von Geisterhand bewegt schwangen die beiden Flügel zurück.
Ein großer, dämmriger Raum voller Statuen öffnete sich vor ihren Blicken. Es waren gespenstische Statuen mit riesigen Köpfen, monströse Gebilde, weder Mensch noch Tier. Über einem steinernen Altar befand sich ein Wesen, das wie eine Mischung aus Vogel und Schlange aussah. Die gefiederte Schlange! Jener seltsame weißhäutige, bärtige Gott, der einer uralten Maya-Überlieferung zufolge das Land Yucatan gen Osten verlassen und seine Rückkehr prophezeit hatte.
Für diese Gottheit hatten die Maya-Krieger damals die ersten spanischen Eroberer gehalten, und deshalb hatten die grausamen Konquistadoren so wenig Widerstand gefunden, obwohl sie auf ein kriegerisches, wehrhaftes Volk gestoßen waren.
Jacahiro legte eine Hand an seine Stirn und verneigte sich vor der steinernen Statue.
Sein Gesicht wirkte hart und ausdruckslos, als er sich umwandte. Er hob die Schultern in einer ratlosen Geste.
„Ich war nie hier. Ich weiß so wenig wie ihr, wo der Schatz der Götter versteckt ist.“
„Dann suchen wir eben“, sagte Jean Morro in die Stille. „Ich nehme an, es gibt unterirdische Gewölbe unter diesem Raum. Wir haben nichts weiter zu tun, als den Zugang zu finden.“
Die Männer nickten.
Zögernd, fast widerwillig gingen sie daran, den großen, dämmrigen Raum zu durchsuchen. Esmeraldo, Barbusse und Pepe le Moco blieben bei den beiden Gefangenen zurück. Besonders konzentriert wirkten sie allerdings nicht. Vielleicht hätten Dan und Batuti jetzt eine Chance gehabt, sich abzusetzen.
Aber erstens wäre es eine sehr dünne Chance gewesen, da die endlos lange Treppe keinerlei Deckung bot, und zweitens hatte der Augenblick auch sie in Bann geschlagen. Sie waren kaum weniger fasziniert und gespannt als die Piraten.
Schon nach wenigen Minuten stieß der Burgunder einen unterdrückten Ruf aus.
Er hatte hinter den steinernen Altar geschaut, jetzt fuchtelte er aufgeregt mit den Armen. Sein Kumpan der „andere Burgunder“, eilte zu ihm, Jean Morro trat hinzu, Esmeraldo und Pepe le Moco stießen die Gefangenen vorwärts. Die ganze Bande drängte sich in der schmalen Lücke zwischen dem Altar und der Statue der gefiederten Schlange – und alle starrten sie stumm auf die quadratische Steinplatte mit dem reich verzierten, gelblich schimmernden Metallring im Boden.
„Gold!“ flüsterte Pepe le Moco mit glänzenden Augen. „Das ist Gold, pures Gold!“
„Vor allem ist es eine Falltür“, stellte der Bretone fest. Seine Stimme klang sachlich, nur ein unmerklich rauher Unterton verriet Erregung. „Pepe! Barbusse! Versucht mal, das Ding anzuheben!“
Barbusse schnaufte unschlüssig: er hatte Jacahiros Reaktion gesehen und teilte offenbar dessen instinktives Unbehagen. Bei Pepe le Moco dagegen überwog die Gier nach Gold alles andere. Er bückte sich hastig, schob die rechte Faust durch den Metallring und zerrte mit aller Kraft daran, ohne erst auf Barbusse zu warten.
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