Tatona warf einen Blick in die Richtung, in der sie Arkana wußte – und sie erschrak. Vor Arkanas Palme, an die man sie gefesselt hatte, brannte ein Feuer, und eine Wache saß an diesem Feuer. Sie konnte also Arkana nicht einmal verständigen, ohne ihre Flucht zu gefährden.
Tatona handelte. Sie kroch zum Wasser hinab, und gleich darauf war sie verschwunden. Dann schwamm sie in die Richtung, in der sie das Wrack der „Mocha II.“ wußte, und sie erreichte es schon nach kurzer Zeit. Und wie die Black Queen behauptet hatte, lag dort ein Boot. Aber ein freudiger Schreck durchzuckte Tatona – denn dieses Boot war ein Langboot mit Auslegern, wie es die Eingeborenen der Karibik benutzten. Sogar ein Segel befand sich an Bord und Paddel. Außerdem ein Wasserfäßchen, das bei sparsamen Gebrauch sogar mehrere Tage reichen konnte.
Tatona löste das Boot, dann paddelte sie es behutsam auf die im Dunkeln daliegende Bucht hinaus. Sie hütete sich dabei, irgendwo in den Schein der am Strand brennenden Feuer zu geraten. Danach wartete sie, und es dauerte nicht lange, bis ihre Kriegerinnen eintrafen, eine nach der anderen. Vier insgesamt.
Sofort begannen die Schlangenkriegerinnen zu paddeln. So gelangten sie aus der Bucht. Aber sie ahnten nicht, daß ihre Flucht von Caligula beobachtet worden war.
Der Mond war aufgegangen, als Tatona das offene Meer erreicht hatte, und sie atmete auf. Viel später hätten sie ihre Flucht nicht mehr bewerkstelligen können, dann nämlich hätte der Mond schon über den Felsen gestanden, die die Bucht umgaben. Sein bleicher Schein wäre an ihnen zum Verräter geworden.
Caligula ließ sie aus der Bucht paddeln. Erst als sie hinter dem Felsvorsprung verschwunden waren, gab auch er das Kommando zum Ablegen. Die große Galeone der Black Queen, die über zwei übereinander liegende Geschützdecks verfügte und die den Namen „Caribian Queen“ trug, blieb hinter ihnen zurück.
Caligula grinste. Nein, diese Schlangenkriegerinnen würden ihn nicht entdecken. Denn sein Boot war pechschwarz gestrichen, und es hatte ein ebensolches Segel. Es würde mit der Nacht verschmelzen, während das, in dem die Schlangenkriegerinnen flohen, von heller Farbe war. Außerdem hoffte Caligula, daß Tatona irgendwann eine Schiffslaterne setzen würde, um rechtzeitig gesehen zu werden. Denn daß irgend jemand so verrückt sein würde, ihre Verfolgung bei Nacht aufzunehmen, damit brauchte sie nicht zu rechnen. Caligulas Rechnung ging auf – er war ein gerissener, gefährlicher Gegner, der zwar über gewaltige Körperkräfte verfügte und ein Meister aller Waffen war, der aber auch ein Gehirn sein eigen nannte, das bestens funktionierte und das schon manchem Gegner zu seinem Untergang verholfen hatte.
An Bord von „Roter Drache“ verhielten sich die meisten schweigsam. Der große Viermaster der Roten Korsarin segelte auf Südwestkurs dahin, und Vor- wie Großmars waren mit scharfäugigen Ausgucks versehen.
Auf dem Achterdeck befanden sich Siri-Tong, Araua, Mister Boyd, der Erste Offizier, und Mike Wimpole, der dürre Rudergänger. Der Viermaster hatte alles an Segeln gesetzt, was Rahen und Masten zu tragen vermochten. Aber der Viermaster kam trotzdem nicht so rasch voran, wie die ungeduldige Rote Korsarin sich das wünschte. Das große Schiff mußte gegen den fast aus Südwest blasenden Wind immer wieder in langen Schlägen kreuzen. Aber kein Mann der Besatzung murrte bei der Knochenarbeit, die das bedeutete. Alle brannten darauf, Arkana zu finden, der zumindest das Unwetter arg mitgespielt haben mußte. Die Ausläufer, in die sie selbst mit „Roter Drache“ geraten waren, hatten ihnen das gezeigt. Dabei vertrug der große Viermaster Siri-Tongs ganz bestimmt eine Menge mehr als die viel kleinere „Mocha II.“, die zudem auch noch viel älter war.
Jeder Mann an Bord schuftete wie ein Berserker, und die Rote Korsarin war nicht gewillt, auch nur eine einzige Meile unnötig zu verschenken. Sie stand auf dem Achterdeck und kontrollierte jedes der Segelmanöver persönlich. Wo ihr etwas zu langsam ging, griff sie sofort ein, und auch ihrem Rudergänger schaute sie auf die Finger.
Stunde um Stunde verging. Die Nacht verstrich, und als sich der erste, schwache Silberstreif am Westhimmel abzeichnete, der zaghaft verkündete, daß die Nacht sich ihrem Ende näherte und in neuer Tag beginnen würde, atmete mancher an Bord des Viermasters auf. Denn sie hatten es schon oft erlebt, daß sich auch der Wind mit dem neuen Morgen zu drehen begann.
Aber das geschah nicht, und sie mußten weiter und weiter kreuzen, Schlag um Schlag. Längst war Araua aus freien Stücken in den Kreuzmars emporgeentert und von dort weiter bis in den Topp, um so weit wie möglich die See überblicken zu können. Es war eigenartig – eine innere Unruhe hatte sie dazu getrieben.
Die Nacht begann der Morgendämmerung zu weichen – dann plötzlich schienen sie die grünen Augen des Schlangengottes geradewegs aus dem Himmel heraus anzuglühen.
Araua wandte den Kopf – und in diesem Moment entdeckte sie das winzige Boot, dessen Insassen in diesem Moment auch den Viermaster entdeckt haben mußte, denn das Boot änderte den Kurs und hielt direkt auf „Roter Drache“ zu.
Araua geriet in unbeschreibliche Erregung. Der Schlangengott – er schickt uns sein Zeichen! jubelte sie innerlich. Wir werden Arkana finden und ihr helfen, der Schlangengott ist mit uns!
Araua enterte ab, dann stürmte sie auf das Achterdeck.
„Ein Boot, Siri-Tong. Ein Langboot, wie es die Eingeborenen segeln, mit einem Ausleger. Das Zeichen, das uns der Schlangengott versprochen hat. Dort, dort drüben ist es, laß Ruder hart Backbord legen!“
Siri-Tong zog Araua einem ersten Impuls folgend an sich. Aber dann gab sie dem Rudergänger sofort Anweisung, und Mister Boyd scheuchte die Männer an die Brassen. Barba, ihr Erster Steuermann, der die Nacht über auf dem Hauptdeck verbracht und die Segelmänöver geleitet hatte, enterte zum Achterdeck auf. Er war ein Riese von Gestalt, und sein Gesicht war über und über mit Narben bedeckt. Er sah aus wie ein fürchterlicher Schlagetot reinsten Wassers, aber dieser Barba genoß das Vertrauen der Roten Korsarin. Er war ein grundehrlicher Kerl, der sich jederzeit für die Rote Korsarin in Stücke schlagen ließ, bevor er duldete, daß auch nur irgend jemand seine Pfoten nach ihr ausstreckte, ohne daß sie es selber erlaubt hätte.
Darüber hinaus Verfügte Barba aber auch über ein paar Augen, die es an Schärfe mit denen Dan O’Flynns auf der „Isabella IX.“ aufnahmen.
„Ich habe es auch gesehen, Siri-Tong“, sagte er. „Schlangenkriegerinnen befinden sich an Bord, wenn mich nicht alles täuscht, Tatona.“
Die Rote Korsarin, die bestimmt ebenfalls über hervorragende Augen verfügte, blickte Barba nur an. Es war nicht das erstemal, daß dieser Riese sie in Erstaunen versetzte. Aber sie sagte nichts – sie war jedoch gespannt darauf, wie Barba das hatte sehen können, denn die Sonne war noch nicht hoch, über der See lag noch graue Dämmerung.
Barba lächelte, denn er las den Unglauben auf dem Gesicht der Roten Korsarin.
„Sie haben an Bord eine Schiffslaterne entzündet. Sie schwenken sie hin und her, und das gibt genügend Licht für Barbas Augen!“
Die Rote Korsarin eilte zum Schanzkleid, während der große Viermaster nach Backbord herumschwang – und dann sah sie es auch. Das Auslegerboot, das beinahe vor dem Wind herlief und ein großes Dreiecks-Mattensegel gesetzt hatte, näherte sich „Roter Drache“ rasend schnell.
„Tatona – es ist Tatona!“ Araua konnte sich nicht beherrschen. Siri-Tong ließ sie lächelnd gewähren, denn überdeutlich hatte sie gespürt, wie die Sorge um ihre Mutter Araua bedrückt hatte. Aber nicht nur die um ihre Mutter, sondern auch die um alle anderen Schlangenkriegerinnen, die Araua alle seit langem kannte, und die sich oft um sie gekümmert hatten, als sie noch ein Kind war. Die sie vieles gelehrt hatten, als aus dem kleinen Mädchen eine heranwachsende junge Kriegerin wurde. Diese Schlangenkriegerinnen der Tempelwache, das wußte Siri-Tong nur zu gut, lebten miteinander wie eine große Familie, sie hatte genügend Beispiele davon erlebt.
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