Philipp war indes bei weitem nicht der erste Krebstote, den die Kolonisten zu beklagen hatten. Die durchschnittliche Erkrankungsrate, gemessen an der Bevölkerungszahl, lag erheblich höher als auf der Erde. Das war der Tatsache geschuldet, dass die Siedler auf ihrer weiten Reise durch das Weltall hohe Dosen an Weltraumstrahlung abbekamen.
Während eine Handvoll Kolonisten den Tod eines der Ihren betrauerten, herrschte auch bei den tiberianischen Beobachtern niedergeschlagene Stimmung. Sie hatten mitbekommen, dass die Terraner ihre Kolonisationsbestrebungen nun auf die Cydonia Region auszuweiten gedachten. Ein Trupp terrestrischer Vermessungstechniker war gerade dabei, Pflöckchen in den Boden zu treiben; und das nur wenige Kilometer neben einer unterirdisch angelegten Stadt, die momentan rund fünfzehntausend Tiberianern eine neue Heimat bot.
Die Regentin Tiberias platzte schier vor Wut. »Verdammt noch mal – was fällt denen eigentlich ein? Kiloon, das dürfen wir uns nicht bieten lassen. Die benehmen sich, als wären sie die Herren dieses Planeten, machen sich wie selbstverständlich überall breit. Nun bereue ich meine dir zuliebe getroffene Entscheidung, diese unbedarften Primaten einstweilen noch gewähren zu lassen. Aber auf dem Gebiet unserer zukünftigen Hauptstadt haben sie definitiv nichts verloren! Siehst du jetzt, wohin uns deine Toleranz führt?«
Der Angesprochene seufzte verständnislos. »Ach, Alanna … die konstruieren dort bestimmt wieder nur eine kleine, überschaubare Siedlung, so ungefähr wie die letzten auch. Wieso sollte uns das überhaupt tangieren? Unsere Leute leben weitgehend unterirdisch, sie oben drüber. Es sollte doch irgendwie möglich sein, eine halbwegs harmonische Koexistenz zu führen. Früher oder später werden Tiberianer und Terraner ohnehin aufeinander treffen, sich in einem Konsens einigen müssen. Besser früher als später, findest du nicht?«
Alanna seufzte ebenfalls, verdrehte genervt die Augen zur Decke und setzte jene arrogantbesserwisserische Miene auf, die er so sehr an ihr hasste.
»Du kapierst es nicht, willst nicht verstehen. Wieso rede ich überhaupt mit dir darüber? Du verhältst dich wie eine willenlose Drohne, die sich von allen Seiten steuern lässt.«
Auf Kiloons hoher Stirn bildete sich eine Zornesfalte. »Ich bin nach wie vor der rechtmäßige Regent Tiberias, ob dir das nun passt oder nicht. Und die Einzige, die mich andauernd zu steuern versucht, bist du. Aber damit ist jetzt Schluss. Du wirst keine Gelegenheit mehr bekommen, mich zu manipulieren.«
»Was soll das heißen? Du weißt genau, dass Ehen in unserer Dynastie auf Ewigkeit angelegt sind. Du kannst mich nicht loswerden, mein Lieber«, grinste die Blondine amüsiert.
»Das leider nicht. Aber die Zeit arbeitet für mich «, gab der Regent nebulös zurück.
Tiberia, KINZeit: 13.6.2.10.18, Montag
In letzter Zeit war es für die erfolgsverwöhnte Alanna nicht mehr so einfach, ihre pubertierende Tochter zur Räson zu bringen. Die hinterfragte Vieles, anstatt wie früher nur gelehrig ihren Ausführungen zu lauschen. Gelegentlich setzte sie ihr mit ihrer Hartnäckigkeit mehr zu als die diskussionsfreudigen Mitglieder der Vordersten-Versammlung, und das wollte etwas heißen.
Zunehmend versuchte die Jugendliche, ihre Eltern gegeneinander auszuspielen. Wann immer sie in Streitigkeiten mit der Mutter geriet, ließ sie sich beim stets geduldigen Vater trösten und wieder aufmuntern.
Es fiel ihr leicht, ihn um den Finger zu wickeln und für sich einzunehmen. Das hübsche Mädchen ähnelte ihrer Mutter wie ein Ei dem anderen, allerdings fehlte das verschlagene Blitzen in ihren Augen. Und genau deswegen liebte Kiloon seine Tochter abgöttisch. Sein kleiner Engel hatte sich bis dato die kindliche Unschuld bewahrt.
Heute nervte sie die ältere Alanna mit der Frage, wieso man mit den Terranern auf dem Mars nicht einfach friedlich koexistieren könne, anstatt sie auf ein kleines Gebiet zurückzudrängen oder gar zu unterdrücken, wie es geplant war.
»Das sind ebenfalls Menschen, genau wie wir. Auch deren Wurzeln befanden sich einst auf dem Mars. Ist es etwa ihre Schuld, dass sie die Nachfahren jener Bedauernswerten sind, welche damals zur Erde statt nach Tiberia geschickt wurden?«, fragte sie herausfordernd.
»Du bist viel zu jung, um dich in Regierungsangelegenheiten einzumischen«, sagte Alanna senior abweisend. Sie verspürte keine Lust auf Debatten mit einer Halbwüchsigen.
»Ich will aber wissen, wieso du so denkst. Papa ist nämlich auch anderer Meinung!«
»Dein Vater lässt manchmal die nötige Weitsicht vermissen, sobald es um Entscheidungen von globaler Tragweite geht«, erwiderte ihre Mutter schnippisch.
»Ach ja? Aber eigentlich ist doch er der Regent, und du hast nur in die Dynastie eingeheiratet«, grinste das Mädchen frech.
Die Ältere hatte sichtlich Mühe, sich nicht provozieren zu lassen. Sie setzte ihr undurchdringliches Pokerface auf.
»Er hat gut daran getan, sich eine starke Frau zu suchen. Andernfalls wäre Tiberia bereits an den Aufständen vor ein paar Jahren zugrunde gegangen. Wäre ich nicht gewesen oder hätte mich feige vom Acker gemacht, so wie er …!«
»Papa hätte noch eingegriffen, da bin ich sicher. Aber du bist meiner Frage ausgewichen. Wieso also können wir die Terraner nicht gleichwertig behandeln?«
»Weil das eine andere, minderwertige Rasse von Menschen ist. Vor vielen BAKTUN haben sich die Marsianer mit terrestrischen Primaten gepaart, haben hierdurch die Blutlinie verdünnt. Die Vermischung hat Hybriden hervor gebracht, aber keine vollwertigen Menschen. Die Hybriden haben sich wiederum mit reinrassigen Terranern eingelassen, bis kaum mehr marsianisches Blut in den Adern der Nachkommen übrig war.
Die wenigen Familien, in denen sich über viele Generationen hinweg überwiegend Hybriden mit Hybriden vereinigt haben, erkennt man bis heute daran, dass ihr Blut einen negativen RhesusFaktor aufweist. Diese Terraner sind meistens größer, schlanker und intelligenter als die retardierten Exemplare der restlichen Bevölkerung. Sie sind es, die den höchsten Anteil an technischen und medizinischen Innovationen für sich verbuchen können.«
»Aber die Hybriden schaffen es doch auch irgendwie, mit den anderen Terranern auszukommen. Warum sollte uns das nicht gelingen?«, beharrte Alanna junior.
»Ach, mein Kind, du bist noch so herrlich unbedarft. Hast du etwa nicht mitbekommen, wie viele Kriege auf Terra ständig ausbrechen? Solche furchtbaren Zustände kommen für den Mars wohl kaum infrage. Und nun gehe mir mit deiner Fragerei bitte nicht mehr auf die Nerven.«
Der Teenager zog ein trotziges Gesicht. »Und wenn wir wenigstens die Hybriden willkommen heißen würden?«
Die Regentin wurde ärgerlich. Der in ihren Augen sinnbefreite Disput dauerte ihr schon wieder viel zu lange.
»Sag mal, was ist an der Sache so schwer verständlich? Ist das Blut einmal versaut, lässt sich das nie wieder rückgängig machen. Dieses terrestrische Dreckspack kann froh sein, wenn ich es nicht bis auf den letzten Mann oder die letzte Frau massakrieren lasse. In sehr begrenzter Anzahl werden sie in einem abgegrenzten Bereich wohnen und für uns arbeiten dürfen, jedenfalls solange sie sich entsprechend friedlich und dankbar verhalten, eine gewisse Demut zeigen. Andernfalls jedoch … «
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