Selbstzufrieden bestieg sie den Magnetaufzug, der sie nach unten in die Stadt bringen sollte. Zwischen dem dreizehn Kilometer langen, schräg nach unten verlaufenden Schacht und dem Reaktor befanden sich mehrere strahlungsdichte Schleusen, die sie sorgfältig hinter sich geschlossen hatte. Nun konnte sie sich mit besorgtem Gesichtsausdruck unter die aufgeregte Bevölkerung mischen, die Unwissende spielen und zusammen mit ihren Untertanen Mutmaßungen anstellen, was an der Oberfläche Schreckliches passiert sein könnte. Und das alles, während sich in der Atomanlage eine veritable Kernschmelzeanbahnte. Die unvermeidliche Nuklearkatastrophe nahm ihren Lauf.
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Innerhalb der ersten zehn Tage, beziehungsweise KIN, nach der Kernschmelze wurden mehrere Trillionen Becquerel an Strahlung freigesetzt, die bei den meisten Siedlern der nur etwa fünfundzwanzig Kilometer entfernten terrestrischen Kolonien Future 1 und 2 die Strahlenkrankheit auslöste. Sie starben binnen weniger Monate, entstellt durch Haarausfall und Hautschäden, an inneren Blutungen oder Versagen des zentralen Nervensystems. Einige wenige Überlebende erkrankten an bösartigen Schilddrüsenkrebs, der sie quälend langsam dahin siechen ließ. Die Kolonien entvölkerten sich in Windeseile.
Der massive Austritt radioaktiver Strahlung wurde von den hochsensiblen tiberianischen Messinstrumenten augenblicklich registriert. Schon kurz nach Eintritt des fatalen Ereignisses wurden sämtliche Einwohner jener unterirdischen Stadt, die ihren Namen erst noch erhalten sollte, darüber informiert, was an der Oberfläche geschehen war.
In fieberhafter Eile aktivierten die zuständigen Techniker die vier Sorbatron –Schilde der Stadt, die die schädliche Strahlung auffangen sollten. Sie funktionierten einwandfrei. Die extrem strahlungsgeladenen Einheiten konnte man anschließend mit dem vielseitig nutzbaren Renamat System pulverisieren und damit die darin enthaltenen Cäsium, Jodund sonstigen Emissionen unschädlich machen. Später würde man auch die betroffenen Gebiete an der Oberfläche mit tragbaren Sorbatron Einheiten vom Fallout säubern, doch das war aus Sicherheitsgründen erst dann möglich, wenn sich die hohe Konzentration an gesundheitsschädlichen Stoffen mit geringer Halbwertszeit dort verflüchtigt hatte.
Für Regentin Alanna bedeutete dies, dass sie sich für einige UINAL an ihrem künftigen Regierungssitz aufhalten musste, die Stadt nicht verlassen konnte. Doch das erschien ihr gut so. Auf diese Weise behielt sie sämtliche Meldungen, die über das Unglück nach Tiberia gelangten, unter ihrer Kontrolle. Niemand würde bei der Aufarbeitung der Unglücksursachen auch nur den geringsten Verdacht auf ihre Urheberschaft schöpfen, da sie selbst unter den Opfern des Atomunfalls war. Und falls doch, würde sie es live mitbekommen und allzu neugierige Ermittler schon beizeiten mittels Jagdfreigabe eliminieren. Jemanden die Schuld für eigene Taten oder Versäumnisse zuzuschieben – das war sie hinreichend gewohnt.
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Kiloon suchte seine Tochter in deren Arbeitsraum auf. Sie bearbeitete neuerdings Anregungen und Anfragen, die aus verschiedensten Sektionen an die Regentenfamilie gerichtet wurden. Es war höchste Zeit zu handeln, und Alanna junior war sein genauso wunderhübscher wie hochintelligenter Trumpf im Ärmel. Er benötigte dringend ihre Hilfe.
Das inzwischen 1 KATUN und zwei TUN alte Abbild der älteren Alanna blickte hocherfreut von seiner Arbeit auf. Die junge Frau erkannte in dem unangemeldeten Besucher ihren verehrten Vater. Ihn und seine Tochter verband zum Leidwesen der eher kühlen Mutter eine innige, bedingungslose Liebe. Im selben Maße, wie die Ältere verblühte, wurde die jüngere Version jeden KIN attraktiver. Hingerissen betrachtete Kiloon ihr ebenmäßiges Antlitz.
»Vater, wie schön … stimmt etwas nicht? Du guckst heute so verbissen drein«, bemerkte die Thronfolgerin besorgt.
»Mir hat die Tragödie auf dem Mars einige schlaflose Nächte bereitet. Sicher, von unseren Leuten hat niemand Schaden genommen, aber die Terraner sterben wie die Fliegen. Es muss grausam sein, so hilflos dahin zu siechen, den sicheren Tod vor Augen. Gestern sah ich mich meinem Seelenheil zuliebe veranlasst, ein paar Recherchen anzustellen. Und siehe da, ich wurde fündig. Jemand hat das Unglück absichtlich herbeigeführt, ich bin mir ganz sicher.«
»Absichtlich? Aber wer könnte … oh!« Alanna junior stockte mitten im Satz. Ihr fiel siedend heiß ein, wer sich momentan in der Cydonia Region aufhielt. Sie wusste, wie sehr die terrestrischen Siedler ihrer Mutter ein Dorn im Auge gewesen waren. Ihre Miene verfinsterte sich. Ins Blau ihrer Augen mischte sich ein stählerner Grauton. Sie beugte sich vor.
»Was hast du herausgefunden?«
»Das Alarmsystem in der Metropole wurde ausgelöst, bevor die Messgeräte der Atomanlage anschlugen und den rapiden Strahlungsanstieg meldeten. Die Alarmfunktion war jedoch deaktiviert. Im Übrigen hat der Reaktor stets einwandfrei funktioniert, war zuletzt drei KIN vor dem Ereignis gewartet worden. Wieso hätte das Kühlsystem plötzlich ausfallen sollen?«
Seine Tochter senkte den Kopf, wirkte sehr traurig. »Und die Atomtechnik gehört in Mutters Sektion. Sie war mit Sicherheit in der Lage, die Kühlung der alten Anlage herunterzufahren. Über ihre Motive brauchen wir sowieso nicht lange nachzudenken«, ergänzte sie Kiloons Ausführungen.
»Du hast es erfasst. Nur sind wir die Einzigen, die es wagen, solche Rückschlüsse zu ziehen. Sie wird mal wieder ungeschoren davon kommen und weiter ihr Unwesen treiben können. Ich bedaure sehr, dass die uralten Statuten unserer Dynastie keine Regelung für den Fall enthalten, dass eine angeheiratete Regentin den rechtmäßigen Regenten übergeht und egozentrisch eigene Entscheidungen trifft. Was sie natürlich sehr genau weiß. Es gibt nur einen einzigen Weg, sie abzusetzen, bevor sie noch größeren Schaden anrichten kann. Und hier, meine Liebe, kommst du ins Spiel!«
»Ich? Wenn ich irgendwie helfen kann, werde ich es tun!«
»So kenne ich mein Mädchen«, lächelte Kiloon.
»Also hör gut zu. Sobald man die Oberfläche in der verstrahlten Region wieder betreten kann, wird deine Mutter hierher zurückkehren. Gleich darauf wirst du zum Mars reisen. Mit der Begründung, dass jemand aus der Regentenfamilie dauerhaft vor Ort sein sollte, um den Fortgang der Arbeiten zu überwachen und Präsenz zu zeigen.
Versuche, möglichst große Teile der dortigen Bevölkerung hinter dich zu bringen. Das sollte dir nicht schwer fallen. Du weißt ja, welche Bevölkerungsteile zuerst dorthin ausgesiedelt wurden. Auf dem Mars tummeln sich momentan genau Diejenigen, welche mit dem hiesigen Gesellschaftssystem unzufrieden waren und nach Veränderung lechzen.
Außerdem nehme ich an, dass die Tiberianer dort ziemlich schockiert darüber sind, was mit den terrestrischen Nachbarn geschehen ist. Mutter hat bereits fleißig herumposaunt, dass es um die minderwertige Menschenrasse nicht schade sei. Das dürfte Vielen missfallen. Wenn nun eine jüngere Version dieser eiskalten Alanna daherkommt, die viel umgänglicher ist, sollte sie leichtes Spiel haben.
Mit anderen Worten: Du sollst über kurz oder lang die Regentin auf dem Mars werden, während sich Tiberia nach und nach entleert und die Bevölkerung so ganz automatisch zu dir überläuft. Ehe es sich meine liebe Gattin versieht, hat sie nichts mehr zu melden, weil ich selbstverständlich hinter dir stehen und die Vorgänge billigen, ja, mehr noch, im richtigen Augenblick freiwillig abdanken werde.«
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