»Zimmermann und Raketenwissenschaftler? Ha! Alter – du musst ja ein bewegtes Leben gehabt haben!«
»Wieso nennst du mich alt?«, wunderte sich Solaras.
»Ach, nur eine Redewendung. Vergiss es einfach. Hast du Papiere? Also Referenzen von früheren Arbeitgebern, Zeugnisse, Diplome oder sowas? Wir könnten zunächst auf Internetplattformen nach passenden Jobs suchen.«
»Nein. Keine Papiere.«
Levi kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Scheiße, dann wird es echt schwierig. Somit braucht ihr als erstes Ausweise. Ihr müsst eure Identität nachweisen können. Wollt ihr Freaks eigentlich hierbleiben oder in absehbarer Zeit weiterziehen?«
»Das kommt ganz darauf an. Falls man irgendwo leichter und angenehmer leben kann, sind wir offen für alles.«
»Dann solltet ihr als Flüchtlinge nach Deutschland gehen. Das liegt nordwestlich von hier, falls du das nicht weißt. Ich habe gehört, dass man dort selbst fürs Nichtstun Geld und ärztliche Versorgung bekommt, dazu einen Sprachkurs. Du musst dich nur übers Nachbarland Jordanien bis nach Syrien durchschlagen, dich dort an der türkischen Grenze registrieren lassen – und ab geht’s ins Paradies«, meinte Levi mit einer ausladenden Handbewegung. Er drückte seinen Zigarettenstummel vor sich in den Sand.
»Als Flüchtling? Aber wovor würden wir denn flüchten?«, fragte Solaras erstaunt.
Levi drehte sich zu Aaron um. »Da hast du ja einen schönen Vogel angeschleppt. Es kann auf dieser Welt doch keinen Menschen geben, der noch nichts vom IS gehört hat, verflixt noch mal!« Er wandte sich stirnrunzelnd an Aaron. »Ich sage dir, wenn der von irgendwem gesucht wird und wir werden deswegen als Unterstützer mit ihm in Verbindung gebracht …!«
»IS? Ist das ein Kürzel, und wenn ja, wofür steht es?«, unterbrach Kalmes seinen Redeschwall.
Levi seufzte. »Ihr seid sowas von ahnungslos, ihr Nasen. Das ist die Terrormiliz Islamischer Staat , die weite Teile Syriens, des Irak und der Kurdengebiete kontrolliert. Eine wüste Horde von Idioten, die den Islam als Deckmantel für ihre Machtgelüste benutzen und im Namen Allahs wahllos sogenannte Ungläubige töten. Sie leben ihre Gewaltfantasien aus und verdrehen besonders jungen Leuten die Gehirne, versteht ihr?«
Solaras und Kalmes zuckten synchron mit den Achseln, blickten entsetzt drein.
»Ihr müsst vor der türkischen Grenze eure Pässe wegwerfen
– nämlich diejenigen, welche ich euch noch besorgen muss – und behaupten, ihr wärt Syrer und wollt nach Deutschland, und zwar ausschließlich dorthin. Dann wird es klappen.«
»Und wie ist dieses Deutschland so?«, wollte Kalmes wissen.
»Och, das soll ganz nett sein. Kühler als hier, im Winter fällt Schnee und die Einheimischen lieben Sauberkeit und Ordnung über alles. Es leben viele Ausländer dort. Allerdings mögen sie Juden nicht so gerne. Ist aber nicht tragisch, denn ihr werdet ja als traumatisierte Syrer einreisen«, grinste Levi hintergründig.
»Wisst ihr was? Ich bringe morgen mal meinen Rechner mit. Dann können wir ein paar Fotos von Deutschland angucken und das Jobportal nach schlecht bezahlten Hilfsarbeiten durchforsten. Vergiss gleich den Raketenwissenschaftler, aber vielleicht kannst du dich auf dem Bau verdingen. Zimmermann … da sollte was gehen. Für deine Alte sieht es schlechter aus. Eine Lehrerin ohne Papiere stellt garantiert niemand ein.
Außerdem nehme ich mit einem Bekannten Kontakt auf, der seinerseits jemand Bestimmten kennt – wegen den Ausweisen. Was hältst du vom Familiennamen Goldberg ? Eure Vornamen sollten wir übrigens auch ändern, die sind zu auffällig.«
»Dann würde ich gerne Maria heißen«, verkündete Kalmes.
»Gerafft. Und du?«
»Jes … äh … Joshua.«
»Geht klar. Aber es gibt nichts ohne Gegenleistung. Sobald du in Lohn und Arbeit stehst, will ich Kohle sehen. Der Preis richtet sich nach dem Aufwand, den ich mit euch haben werde. Ihr haut mir nicht nach Syrien ab, bis die Schulden vollständig bezahlt sind. Habe ich dein Wort?«
»Einverstanden«, nickte Solaras und drückte Levis Hand.
»Nur eine Frage hätte ich noch. Wo finde ich einen mildtätigen Heilkundigen, der ohne Bezahlung arbeitet oder mir die Kosten einer Behandlung zumindest stundet?« Er deutete vielsagend auf Kalmes‘ Bein.
»Vergiss es! Ihr habt vorläufig keine Krankenversicherung und keine Kreditkarte, da ist nichts drin mit Arzt oder Krankenhaus. Umsonst ist nur der Tod. Ich besorge eine Salbe, vielleicht hilft ihr die ein bisschen. Bis morgen dann, wir bringen wieder Essen mit. Das setze ich selbstverständlich alles auf die Rechnung. Falsche Bescheidenheit ist weniger mein Ding.«
Die Freunde rappelten sich auf, trollten sich palavernd.
In dieser Nacht schüttete es wie aus Eimern. Frierend klammerte sich Kalmes an ihren Gefährten, ihre Zähne klapperten. Sie standen unter dem zugigen Dach einer Bushaltestelle.
»Die Menschen haben kein Herz mehr. Meine Mutter hat damals wenigstens Unterschlupf in einem Stall gefunden, als ich vor zweitausend Jahren auf Terra wiedergeboren wurde. Und heute? Alles abgesperrt und verrammelt. Soweit jemand um diese Zeit auf der Straße ist, sucht er bloß nach einem flüchtigen Vergnügen und interessiert sich nicht für die Not seiner Mitmenschen«, klagte Solaras.
*
Levi hatte es tags darauf satt, mit den beiden mutmaßlichen Outlaws am regenfeuchten Strand zu hocken. Ein kühler Wind blies vom Meer her, ließ alle vier frösteln.
So schlug er vor, sich in eine nahe Imbissbude zu setzen.
»Ich habe in den letzten Tagen ein paar nicht ganz legale, aber gute Geschäfte gemacht. Eure Burger gehen ausnahmsweise auf mich«, meinte der MöchtegernRastafari augenzwinkernd.
»Burger … auf dich … was bedeutet das bitte?«, fragte Solaras verunsichert.
»Was zum Beißen, Mensch! Kostenloses Essen. Eines sag ich dir. Sobald wir bestellt haben, bist du mir ein paar Erklärungen schuldig. Wenn wir das Ding mit den Ausweisen zusammen durchziehen wollen, müssen wir uns gegenseitig vertrauen können. Ihr wisst dann einiges über mich und meine Kontaktleute, dafür sagt ihr mir klipp und klar, wer ihr seid und woher ihr kommt. Nazareth … klar, der Dialekt würde passen. Aber euer Gehabe nicht. Also, abgemacht?«
Solaras zögerte, sah zu Kalmes hinüber. Die wirkte blass, ihre Gesichtszüge verhärmt. Aus ihren Augen sprach Angst.
»Na schön«, wisperte sie. »Wir haben ja keine andere Wahl.«
Der langhaarige Tiberianer straffte seinen Rücken, atmete tief durch. »Na gut. Vertrauen gegen Vertrauen, ein fairer Handel. Hoffentlich verkraftet ihr die Wahrheit.«
»Alter … hast du eine Ahnung, wen du hier vor dir hast«, lachte Aaron und zog eine Riesentube Heparinsalbe aus seiner Jackentasche. Er reichte sie Kalmes über den Tisch. »Morgens und abends einreiben, das Bein so ruhig wie möglich halten, wenn möglich viel hochlegen. Habe ich aus der Hausapotheke meiner Mutter geklaut.«
»Du hast sie für mich gestohlen? Aber das …!«
Solaras fiel ihr ins Wort. »Sei froh, dass er dir hilft, Kalmes. Außerdem darf ich dich daran erinnern, dass auch wir im Begriff stehen, illegale Dinge zu tun – und denke an diejenigen, welche wir bereits getan haben. Den … das Gerät unter dem Sand bei Jad Mordechai eingeschlossen.«
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