„Das – das Goldstück gehört Ibrahim“, stotterte er verwirrt. Er versuchte, den Profos hinzuhalten. „Er – er selbst überreicht es.“
„Dein Ibrahim kann gar nichts mehr überreichen“, fauchte Carberry. „Mit dem ist heute nicht mehr zu reden. Und wenn du die Siegerprämie nicht gleich herausrückst, wirst du auch lange nichts mehr überreichen. Dann wackel ich dich nämlich so lange durch, bis dir der Arsch voll Tränen steht.“
Als Jung Philip das übersetzte, brandete in der Menge Gelächter auf. Gleichzeitig wurden aber auch Drohungen gegen den Buckligen laut. Mit einer hastigen Bewegung überreichte er dem Profos des Goldstück. Der nahm es grinsend in Empfang und ließ es in der Hosentasche verschwinden.
Dann sagte er: „Einen Gruß noch an den zweitstärksten Mann der Welt. Und wenn du noch mehr Goldstücke übrig hast – wir sind mehr als dreißig Kerle, die dem lieben Ibrahim zeigen, wo es langgeht.“
Er ließ den völlig verstörten Buckligen stehen und bahnte sich seinen Weg durch die Menge zurück.
Der Kutscher sah ihn besorgt und kopfschüttelnd an.
„Du hast dir ein paar ganz schöne Brocken eingefangen, aber du hast den Kerl prächtig geschafft. Hast du Schmerzen, wollen wir an Bord zurück?“
„Ich doch nicht!“ tönte der Profos. „Was soll ich jetzt an Bord – mir das Goldstück ansehen? Nein, mein lieber Kutscher, das werden wir jetzt auf den Kopf hauen, ich habe nämlich Durst. So ein Kampf strengt schließlich an, was, wie? Also, gehen wir.“
Mit diesem Carberry ist es doch immer das gleiche, dachte der Kutscher. Der würde sich nie ändern. Prügelte sich aus reinstem Jux herum, gewann ein Goldstück und haute es anschließend in der nächsten Kneipe auf den Kopf. Nicht zu fassen! Und dafür ging er das Risiko ein, halbtot geprügelt zu werden.
Es dauerte auch nicht lange, da hatten sie die richtige Pinte gefunden. Sie war gar nicht weit vom Hafen entfernt.
Dann begann eine fröhliche Runde.
Ali Mustafa hatte die schlimmste Nacht seines Lebens hinter sich.
Als der Morgen graute, hatte er nicht eine einzige Minute geschlafen. Sein Körper war nur noch ein Stück rohes Fleisch. Er war mit Blutergüssen und dunkelblauen Striemen von oben bis unten übersät. Jeder einzelne Knochen tat ihm weh, und auf den Beinen konnte er schon gar nicht mehr stehen. Alles brannte wie höllisches Feuer.
Er hörte Schritte, aber er sah niemanden. Er verspürte Hunger und einen entsetzlichen Durst, doch keiner kümmerte sich um ihn. Es war, als hätten sie ihn längst vergessen. Aber sie erschienen wenigstens auch nicht, um ihn wieder zu foltern.
Das erste Gebet des Muezzin war verklungen.
Als auch das zweite abgeleiert war, lag er immer noch fast reglos in der kalten stinkenden Brühe. Danach hörte er Schritte, die vor seinem Verlies abrupt endeten. Zwei Männer unterhielten sich leise, aber er konnte kein Wort verstehen. Sie flüsterten miteinander.
Angst wallte in ihm auf. Sicher wollten sie ihn holen. Er lauschte angespannt und mit plötzlich hellwachen Sinnen.
Nach einer Weile erstarb das Flüstern, und er hörte, daß sie an der Tür hantierten.
Die Ungewißheit peinigte ihn. Er wußte nicht, was sie taten. Aber vielleicht wollten sie ihn nur verunsichern, ihn ängstigen, bis er wahnsinnig wurde.
Die Schritte entfernten sich wieder. Ali Mustafa atmete erleichtert auf, daß die Schergen weg waren.
Nach endlosen Ewigkeiten hörte er den Muezzin wieder. Es war das dritte Gebet. Sein Herz begann laut zu pochen. Bald mußte es soweit sein.
Er versuchte den Gedanken zu verdrängen, wenn sie ihn vor das Kanonenrohr banden. Sicher würde es ein schneller und fast schmerzloser Tod sein, wenn die Kanone gezündet wurde. Doch der Gedanke ließ sich nicht verdrängen, er kehrte immer wieder beharrlich zurück.
Ali Mustafa zuckte zusammen, als erneut Schritte zu hören waren. Es waren drei Männer, das hörte er deutlich heraus. Mit klopfendem Herzen lauschte er.
Direkt vor seiner Tür blieben die Schritte aus. Geraschel und Gekratze waren zu hören, dann ein Quietschen der Türscharniere. Undeutlich erkannte er die Umrisse von drei Männern.
Es war soweit!
„Raus mit dir, Ali Mustafa“, sagte eine Stimme.
Der Gefangene rührte sich nicht.
„Raus mit dir!“ wiederholte die Stimme, jetzt schärfer.
„Vielleicht hat er die Nacht nicht überstanden“, sagte jemand. „So was soll ja passieren.“
„Der ist zäh wie Leder. Holt ihn da raus.“
Die Soldaten fluchten, als sie in das Verlies stiegen. Sie fluchten über den Dreck und die Brühe, aber nur, weil sie Angst hatten, sich die Schuhe zu versauen.
Sie packten Ali Mustafa bei den Armen und zerrten ihn hinaus. Mit einer Fackel leuchteten sie ihm ins Gesicht, bis seine Haare versengten.
„Vorwärts, durch den Gang hinaus“, befahl einer. „Du siehst ja noch ganz gesund aus, also kannst du auch laufen.“
Aber Ali konnte nicht laufen. Er war nicht einmal in der Lage, ein Bein vor das andere zu setzen. Jede Bewegung bereitete ihm höllische Qualen.
Als sie ihn einmal losließen, schrie er leise auf und sackte in sich zusammen.
Sie schleppten ihn fort, bis er das Tageslicht sah. Draußen wartete ein Karren, vor den ein Muli gespannt war. Sie warfen ihn auf den Karren und lachten roh.
Die Reise ging nach Yedikule an der südlichen Westmauer, wo die Häuser am Hang standen und sich weiter oben die Festung mit den Kanonen befand. Dort wurden auch die Verbrecher hingerichtet. Es war der „Platz der tausend Ängste“, wie die Türken ihn nannten.
Als sie in der Festung anlangten, zerrten sie Ali Mustafa von dem Eselskarren und stießen ihn auf den Platz, wo die Soldaten standen, die Ali unbeteiligt musterten.
Einer seiner Wächter ging auf einen breitschultrigen Mann zu, der einen roten Fez auf dem Kopf trug.
„Das ist Ali Mustafa Hayri. Die drei Kadis haben ihn zum Tode verurteilt. Er soll nach dem vierten Gebet vor die Kanone gebunden werden. Die Anklage lautet …“
„Ich weiß“, sagte der Hauptmann. „Er ist ein Verräter, ein Spion und ein Zauberer. Er hat den Kadi verflucht. Es wird dem Henker ein besonderes Vergnügen sein, ihn zu richten.“
Ali Mustafa sah die große Kanone, deren Mündung direkt auf das Wasser zeigte. Unter der Festung segelte gerade eine Sambuke vorbei.
„Das vierte Gebet beginnt gleich“, sagte der Hauptmann. „Bindet ihn vor die Kanone. Ein Hundesohn wie er hat kein Recht mehr auf ein letztes Gebet.“
Derbe Fäuste griffen zu und stießen Ali in Richtung der Kanone. Er sah den riesigen Schlund, diese gewaltige Mündung, und schluckte hart.
Die Kugel befand sich schon in dem Rohr, nur das Pulver wurde noch eingefüllt. Sie nahmen ziemlich viel, wie er entsetzt feststellte.
Gleich darauf erschien ein hünenhafter Kerl, der auf seinem riesigen Schädel einen lächerlich kleinen Fez trug. Der Kerl richtete den Blick drohend auf ihn und musterte ihn von oben bis unten, als wollte er berechnen, in wie viele Stücke Ali wohl fliegen würde, sobald die Kanone abgefeuert war.
Ali Mustafa hatte diesen riesigen Fleischberg schon einmal gesehen und wußte, daß es der Henker Omar war, ein Kerl, der fast tagtäglich Hinrichtungen in Istanbul und Umgebung vornahm.
Ali nahm einen schon widerlichen Geruch nach Knoblauch wahr, als der Henker sich ihm näherte. Seine riesigen Hände packten zu und hielten Ali unbarmherzig in einem mörderischen Griff fest. Mit wenigen Handgriffen band ihn der Henker an das Kanonenrohr. Alis Füße berührten gerade noch den Boden. Die Arme hatte er wie in einer liebevollen Umarmung um das Rohr geschlungen.
In diesem Augenblick rief der Muezzin. Es war das vierte Gebet, und es klang anfangs dünn und kehlig vom Minarett, und es dauerte auch sehr lange, als wolle der Muezzin die Hinrichtung hinausschieben.
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