Mary, Gotlinde und Gunnhild waren bei den Kindern an Bord der „Empress of Sea II.“ zurückgeblieben. An Bord der „Wappen von Kolberg“, der „Pommern“ und der „Golden Hen“ befanden sich die Männer, die als Ankerwachen eingeteilt waren – beispielsweise Tom Coogan, Eric Winlow und Gordon McLinn, die ihren Dienst auf der Karavelle versahen.
„Ich versteh’ das nicht ganz“, sagte Gordon McLinn. Er blickte zu den Gestalten, die zwischen den Kiefern der Halbinsel verschwanden. „Was soll denn das? So ein Quatsch.“
Er gehörte wie Dave Trooper und Paddy Rogers von der „Isabella“ zu den „Schnellmerkern“ des Bundes und brauchte immer etwas mehr Zeit als die anderen, um die simpelsten Zusammenhänge zu begreifen.
„Mach dir darüber keine Gedanken“, sagte Winlow. „Die Hauptsache ist, daß unsere Freunde endlich da sind.“
„Ja. Aber warum lotsen wir sie nicht gleich in unsere Bucht?“
Tom Coogan seufzte. Eric Winlow legte Gordon die Hand auf die Schulter und entgegnete: „Komm mit in die Kombüse, Gordon. Wir heizen schon mal kräftig die Feuer für die Suppe an, die es heute abend gibt. Dabei erkläre ich dir noch mal genau, was es mit dem Späßchen auf sich hat.“
Sie verschwanden in der Kombüse der „Golden Hen“. Winlow schürte das Feuer unter den Kesseln, dann schickte er Gordon in den Proviantraum, wo er noch eine Speckseite holen sollte. Als Gordon wieder die Kombüse betrat, hatte er bereits vergessen, welches das Problem war, über das er sich die ganze Zeit den Kopf zerbrochen hatte.
Währenddessen hatten sich die „Isabella“, die „Caribian Queen“ und „Eiliger Drache über den Wassern“ so weit Great Abaco genähert, daß die Gestalten an Bord bereits mit dem bloßen Auge zu erkennen waren.
Old O’Flynn stand neben Jean Ribault, Renke Eggens, Don Juan und Oliver O’Brien. Sie hatten in einem Gebüsch Stellung bezogen, von dem aus sie die See beobachten, selbst aber nicht gesehen werden konnten.
Old O’Flynn spähte mit dem Spektiv zur „Isabella“ und sagte: „Sie scheinen schon ziemlich unruhig zu sein.“
„Und gleich sind sie ganz aus dem Häuschen“, sagte Ribault.
„Lassen wir sie zappeln“, sagte Oliver O’Brien grinsend. Er warf ebenfalls einen Blick durch seinen Kieker und glaubte sehen zu können, wie der Wikinger bereits ratlos an seinem Kupferhelm kratzte. Aber das war natürlich vorerst noch eine reine Einbildung.
Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, stand auf dem Achterdeck der „Isabella IX.“ und beobachtete durch sein Spektiv unausgesetzt Great Abaco. Ein Irrtum war ausgeschlossen: Sie hatten den Treffpunkt erreicht. Doch von der „Golden Hen“, der „Empress of Sea II.“, der „Wappen von Kolberg“ und der „Pommern“ war nirgends etwas zu entdecken.
„Vielleicht sind sie an der anderen Seite vor Anker gegangen“, sagte Ben Brighton, der unmittelbar neben seinem Kapitän Posten bezogen hatte.
„Nein, das kann nicht sein“, widersprach der Seewolf. „Wir haben vereinbart, daß wir uns in der großen Bucht an der südlichen Ostseite treffen. Daran hätten die Freunde sich auf jeden Fall gehalten.“
„Du meinst, es ist was passiert?“ fragte Big Old Shane. Er stand etwas weiter achtern neben Pete Ballie, dem Rudergänger. „Aber was sollte ihnen zugestoßen sein?“
„Hölle und Teufel!“ brüllte Carberry, der jedes Wort mitgehört hatte, auf der Kuhl. „Hoffentlich hängt das nicht mit den verfluchten Alis zusammen!“
„Dir gehen die Alis wohl nicht aus dem Kopf, was?“ rief Blacky. „Aber da liegst du falsch. Eine Handvoll verlauster Piraten kann doch vier Schiffen nichts anhaben. Entweder sind die Alis längst krepiert, oder sie sind seit einiger Zeit weg von der Insel. Eine dritte Möglichkeit ist, daß unsere Leute ihnen mit den Kanonen den Marsch geblasen haben, als sie eingetroffen sind.“
„Na schön“, sagte der Profos grimmig. „Und wo sind sie jetzt?“
Darauf wußte keiner eine Antwort. Die Schiffe segelten auf Great Abaco zu. An Bord der „Caribian Queen“ und des Schwarzen Seglers herrschte genauso großes Rätselraten wie auf der „Isabella“.
Siri-Tong betrachtete die Insel mit mißtrauischer Miene. Sie vermutete eine Falle.
Ähnlich dachte auch der Wikinger, und er begann jetzt wirklich, an seinem Kupferhelm zu kratzen, vor allem auch deshalb, weil er sich wegen Gotlinde, seinem angetrauten Weib, und seinen Kinderchen Thyra und Thurgil zu sorgen begann.
Ja, und auch Smoky, der Decksälteste der „Isabella“, war schon ganz zappelig. Wo war Gunnhild, seine Frau, mitsamt Klein David abgeblieben?
Geradezu zögernd gingen die drei Schiffe wenig später vor der Küste der Eight Miles Bay vor Anker.
„He!“ brüllte Thorfin Njal. „Was wird hier gespielt, bei Odin und seinen schwarzen Raben?“
„Weiß ich das?“ schrie die Rote Korsarin zurück. „Die Schiffe sind jedenfalls nicht da!“
„Dann spukt es!“ brüllte Carberry.
„Es wird schon alles mit rechten Dingen zugehen“, sagte Hasard. „Jean, Renke, Oliver und Donegal haben aus irgendeinem Grund wieder auslaufen müssen.“
„Es hätte wenigstens einer zurückbleiben können, der uns Bescheid gibt“, sagte Ben. „Ich finde das ziemlich merkwürdig.“
„Also, wo sind die Kerle?“ brüllte Thorfin Njal mit Donnerstimme. „Wir haben doch diesen Treffpunkt vereinbart, verdammt noch mal!“
„Kannst du nicht mal mit dem Gebrüll aufhören?“ rief Siri-Tong. „Du machst noch die Quallen im Wasser verrückt! Und die Kariben, die in den Dünen lauern könnten!“
„Wer brüllt denn?“ brummte der Wikinger.
„Ja, wer brüllt denn?“ echote der Stör, der die dumme Angewohnheit hatte, immer die letzten Worte seines Kapitäns nachzusprechen.
Prompt fuhr der Wikinger zu ihm herum und stemmte die Fäuste in die Seiten. „Hör mal zu, du Wurm! Sollten auf der verfluchten Insel da tatsächlich Kariben in den Dünen lauern, schicke ich dich als ersten vor, damit sie dich anfallen und auffressen!“
„Warum denn auffressen?“
„Weil ich sie darum bitten werde.“
„Oh, ich verstehe.“
„Hältst du endlich das Maul?“ fuhr der Wikinger ihn an.
„Ja.“ Aber auch der Stör war äußerst verwirrt. Er wandte sich ab und trat an das Schanzkleid zu Eike, Oleg, Arne und den anderen, die sich die Augen ausstarrten. Wo waren die Freunde? Ob da was passiert war?
Hasard hatte unterdessen die große Jolle der „Isabella“ abfieren lassen. Rasch stellte er die Besatzung zusammen.
„Ed, du begleitest mich“, sagte er. „Wir sehen nach, ob es an Land irgendwelche Spuren von unseren Leuten gibt. Ferris, Batuti, Roger, Dan, Luke und Gary – nehmt eure Feuerwaffen und entert in die Jolle ab.“
Die Männer holten ihre Musketen und Blunderbusses. Der Gambia-Mann hängte sich seinen Pfeilköcher um und nahm seinen Langbogen, aber auch einen Morgenstern mit. Hasard holte aus der Kapitänskammer seinen mehrschüssigen Radschloß-Drehling. Dann enterte er mit den Männern in die Jolle ab.
„Sir, nimm mich bitte mit!“ rief Smoky.
„Nein, du bleibst hier.“
„Aber Gunnhild und …“
„Das ist ein Befehl“, unterbrach ihn Hasard. „Wir sehen jetzt erst mal nach dem Rechten. Anschließend beraten wir, was wir unternehmen.“
Es war einleuchtend: Was immer an der Eight Miles Bay vorgefallen sein mochte, der Seewolf wollte nicht, daß Smoky mit dabei war, wenn sie etwas entdeckten. Doch eigentlich war es schon übertriebene Vorsicht, denn Hasard konnte sich nicht vorstellen, daß irgendein Gegner gleich vier Schiffsmannschaften überwältigte und dann auch noch die Schiffe verschwinden ließ. Die plausibelste Erklärung schien zu sein, daß ihre Freunde – aus welchen Gründen auch immer – sich von Great Abaco wieder zurückgezogen hatten.
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