„Klarer Fall“, sagte Hein Ropers. „Daß das Labyrinth eine hervorragende Versteckmöglichkeit für unsere Schätze ist, dürfte damit außer Zweifel stehen.“
„Und das ist ein sehr wesentlicher Punkt bei unserem Plan, einen Ersatz für die Schlangen-Insel zu suchen“, sagte Jean Ribault. „Ich bin wirklich gespannt, was Hasard davon hält.“
„Was meint ihr, wann trifft er hier ein?“ fragte Mary.
„In zwei, drei Tagen“, entgegnete Jean Ribault. „Dann können wir alles gründlich durchsprechen. Ich denke, es lohnt sich wirklich, wenn wir uns mit der Geisterhöhle etwas eingehender befassen.“
„Ja“, sagte Old O’Flynn. „Aber beschwert euch nicht bei mir, wenn der Knochenmann plötzlich zu laufen anfängt und euch den Hals umdrehen will.“
Renke Eggens lachte. „Ich glaube, das überstehen wir. Wir sind ja auch nicht gerade die Schwächsten.“
„Ob diese Insel aber als ständiger Stützpunkt geeignet ist?“ meinte O’Brien. „Die Unterbringung der Beute ist eine Sache, die Wahl eines neuen Schlupfwinkels eine andere, findet ihr nicht auch?“
„Wir können darüber noch diskutieren, wenn Hasard und die anderen eintreffen“, erwiderte Don Juan.
Dem schlossen sich die anderen an. Sie konnten jetzt nur noch eins tun – auf die „Isabella IX.“, die „Caribian Queen“ und den Schwarzen Segler zu warten.
Natürlich mußten die Männer und die „Ladys“ der vier Schiffe, die in der Cherokee-Bucht ankerten, auch ständig darauf gefaßt sein, daß sich unerwünschte Besucher der Insel Great Abaco näherten. Spanier konnten unverhofft und unversehens auftauchen, Piraten und Galgenstricke oder aber auch Eingeborene.
Zwar hatte Mubaraks Horde zehn Monate lang auf Schiffe warten müssen, doch das war keine Garantie dafür, daß man sich hier sicher fühlen durfte.
Gleich nach der Ankunft hatten die Männer einen Ausguck eingerichtet – in einer hohen Kiefer, die auf einem Hügel der Halbinsel stand, welche die Cherokee-Bucht abschirmte. Es handelte sich um eine Abakoskiefer, deren Holz nach Hesekiel Ramsgates Urteil hervorragend für den Schiffbau geeignet war. In der Krone konnte man bequem sitzen und hatte von hier aus einen hervorragenden Rundblick.
Am Nachmittag des 24. April hatte Pierre Puchan, der Mann mit der Perücke aus Jean Ribaults Crew, Ausguckdienst auf der Kiefer. Er hatte es sich so gemütlich wie möglich eingerichtet, saß in einer Astgabel und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen beindicken Ast. Aufmerksam hielt er mit dem Spektiv Ausschau. Doch es tat sich nichts. Es war ein ruhiger Tag, der genauso ereignislos zu enden schien wie die vergangenen.
Kein Schiff hatte sich in den Tagen gezeigt, die sie hier nun verbrachten. Eigentlich hatten sie alle fest damit gerechnet, daß heute die „Isabella“, die „Caribian Queen“ und Thorfin Njals „Eiliger Drache“ erschienen, doch sie hatten sich getäuscht. Ihre Geduld wurde nun doch auf die Probe gestellt.
Pierre hatte das linke Bein ausgestreckt. Das rechte hielt er angewinkelt. Im Grunde war es kein schlechter Dienst – nur eben langweilig. Die Kimm war wie leergefegt. Graublau schimmerte das Wasser, hellblau war der wolkenlose Himmel.
Hin und wieder beobachtete Pierre ein paar Seevögel, die ihre Kreise zogen. Sie stiegen von Great Abaco auf, flogen ein Stück über das Wasser hinaus, kurvten und senkten sich auf die Oberfläche hinunter. Dann stießen sie zu. Sie fingen kleine Fische. Einige fraßen sie gleich auf, wie der Franzose verfolgen konnte, andere trugen sie zur Insel.
Wieder warf Pierre einen prüfenden Blick zur Kimm. Langsam bewegte er das Spektiv von links nach rechts. Dann, ganz plötzlich, stutzte er. Er hielt in der Bewegung inne und richtete den Oberkörper auf. Seine Haltung versteifte sich.
„Potzblitz“, sagte er. „Na, das nenne ich mal eine Überraschung.“
Er schob den Daumen und Zeigefinger der linken Hand in den Mund und stieß einen gellenden Pfiff aus. Donald Swift, der etwas entfernt Wache ging, horchte sofort auf.
„Was ist los?“ rief er. „Schiffe?“
„Ja“, erwiderte Pierre. „Mastspitzen an der südlichen Kimm.“
„Soll ich das melden?“
„Warte!“ rief Pierre. Aufmerksam spähte er durch sein Spektiv. „Vielleicht kann ich erkennen, was für Schiffe es sind!“
An der Bucht war der Pfiff auch gehört worden. Jean Ribault, der gerade an Land war, fuhr herum. Er lief zur Halbinsel, um nach der Ursache des Pfiffes zu forschen. Karl von Hutten, Don Juan und Renke Eggens schlossen sich ihm an.
„Na, hör mal!“ rief Donald Swift gerade, als sie bei ihm eintrafen. „Es ist doch wohl klar, daß es die ‚Isa‘, die ‚Queen‘ und der Schwarze Segler sind!“
„Klar ist bei mir nur, was ich genau sehe“, entgegnete Pierre von der Krone der Abakoskiefer. „Es können genausogut Dons sein. Nun sei mal nicht so zappelig.“
Ribault mußte unwillkürlich grinsen. Pierre Puchan war ein ruhiger Mensch, er wurde nur grantig, wenn man ihn wegen seiner Perücke aufzog. Nichts konnte ihn so leicht aus der Fassung bringen. Er versah seine Aufgabe ernst und mit der erforderlichen Gründlichkeit.
„Wartet hier auf mich“, sagte Ribault zu seinen Begleitern. „Ich sehe selbst mal nach, von wem wir offenbar Besuch erhalten.“ Er kletterte am Stamm der Kiefer hoch und gesellte sich zu Pierre.
„Drei Schiffe“, brummte dieser. „Aber ich kann sie immer noch nicht genau erkennen.“
Er reichte seinem Kapitän das Spektiv, und dieser sah ebenfalls zu den Mastspitzen, die sich über die südliche Kimm schoben.
„Sie könnten es sein“, sagte Jean Ribault. „Ja, jetzt kann ich es erkennen: Eins der Schiffe ist ein Viermaster.“
Kurz darauf stand es fest. Die Schiffe waren die „Isabella IX.“, die „Caribian Queen“ und der Schwarze Segler.
Jean Ribault händigte das Spektiv wieder seinem Ausguck aus und sagte: „Pierre, wir erlauben uns einen kleinen Spaß mit ihnen. Wir spannen sie ein bißchen auf die Folter. Wir zeigen uns nicht und warten ab, ob sie uns hier entdecken.“
Pierre Puchan entblößte seine weißen Zähne zu einem Grinsen. „Ob Hasard, Siri-Tong und der Wikinger das so witzig finden, weiß ich aber nicht.“
„Humor muß der Mensch haben“, sagte Jean Ribault leise lachend. „Außerdem will ich wissen, wie gut unsere Schiffe hier versteckt sind.“
Er enterte wieder ab und trat zu den Freunden. Sie sahen ihn erwartungsvoll an.
Don Juan fragte: „Sie sind es wirklich, nicht wahr?“
„Ja“, erwiderte der Franzose. „Aber ich schlage vor, wir spielen ihnen einen kleinen Streich. Wir melden uns vorerst nicht, sondern halten uns versteckt. Ich bin gespannt, wie weit unsere Schiffe in dieser Bucht nach außen hin abgeschirmt sind.“
„Einverstanden“, sagte Renke Eggens. „Aber ich kann mir schon jetzt vorstellen, wie Carberry fluchen wird.“
„Ich auch“, sagte Karl von Hutten. „Aber sein Gepolter fehlt mir. Ich bin richtig versessen darauf, den guten, alten Ed mal wieder tüchtig losröhren zu hören.“
Sie lachten, dann liefen sie zur Bucht zurück. Donald Swift blickte ihnen ein wenig irritiert nach. Verrückte Bande, dachte er.
Auch Old O’Flynn, Ramsgate und die anderen hatten keine Einwände: Der Seewolf, die Rote Korsarin und der Wikinger sollten ruhig mal ein bißchen nach ihnen suchen. Hier würde sich herausstellen, wie gut die Cherokee-Bucht als versteckter Ankerplatz geeignet war. Gewiß, nach Süden hin wurde die Bucht durch ihre hakenförmige Halbinsel samt dem Baumbestand abgeschirmt. Reichten diese Bäume als Tarnung aber wirklich aus?
Die Männer verteilten sich auf die Halbinsel und verfolgten das Heransegeln der drei Schiffe.
Old O’Flynn kicherte und rieb sich die Hände. Die Sache war ganz nach seinem Geschmack. Er stellte sich bereits vor, wie betroffen die Kerle dreinschauen würden, besonders Carberry, Shane und Ferris Tucker. Aber auch sein Sohn Dan, dieser Schlauberger, würde dieses Mal keinen Rat wissen. Und Hasard? Na, der würde auch Augen machen!
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