„Er muß da unten sein“, sagte Don Juan. „Es gibt keine andere Möglichkeit, aber das können wir erst feststellen, wenn wir uns in die Tiefe abseilen. Der Teufel mag wissen, wie lang dieser Gang ist. Und Donegal spaziert vermutlich irgendwo dort unten herum und kann uns nicht hören.“
„Der spaziert ganz sicher nicht in totaler Finsternis herum“, widersprach Mary, „dazu hat er viel zuviel Angst vor Geistern, die in der Tiefe lauern.“
„Ich laufe zurück und hole Seile“, sagte Martin. „Die Fackel könnt ihr hierbehalten, ich finde den Weg auch so.“
Und schon war er weg.
Jean Ribault nahm eine Fackel, beugte sich tief zu dem Gang hinunter und warf sie schwungvoll hinein. Funken sprühten, die Fackel begann zu rollen und überschlug sich holpernd, einen längeren Licht- und Rauchschweif hinter sich lassend.
Das Licht wurde immer schwächer, bis es nicht mehr zu sehen war.
Jean Ribault schluckte. Ganz sicher war die Fackel nicht erloschen, aber der Gang war so tief, daß sie sich ihren Blicken entzog.
Er sah Mary an, sagte aber nichts, damit die sich nicht noch mehr sorgte. Aber Mary dachte das gleiche wie Jean.
Hier war der Zorngockel übergangslos hineingefallen, und wahrscheinlich hatte er eine Höllenfahrt hinter sich. Möglicherweise hatte er sich vielleicht das Bein gebrochen und konnte nicht mehr laufen, denn auf dem Holzbein allein konnte er sich nicht halten.
Sie überlegte krampfhaft, wohin der Gang führen mochte, denn er war wirklich sehr lang. Jetzt drang nur noch ein wenig dunstiger Rauch aus dem steilen Schacht.
Nach überraschend kurzer Zeit kehrte Martin mit zwei langen Leinen zurück. Er hatte auch noch zwei weitere Fackeln mitgebracht.
„Das übernehmen Martin und ich“, sagte Jean. „Wenn ihr die Leinen haltet, seilen wir uns ab.“
Es wurde nicht lange diskutiert, denn Eile war geboten, und so widersprach niemand, als Martin und Jean sich die Leinen umbanden.
Mit Fackeln bewaffnet ließen sie sich vorsichtig in den Gang abseilen.
Eine schweigende Welt nahm sie auf, als ihre Fackeln die seltsame Umgebung erhellten. Anfangs sahen sie sich nur stumm um und staunten über die Tropfsteine, die überall bizarr aufwuchsen und mitunter den Weg versperrten.
„Gar nicht so steil, wie ich dachte“, sagte Jean, „aber wenn man hier unversehens hineinfällt, saust man doch wahrhaftig ab wie in einer Rutsche.“
Der Boden wurde nach einer Weile eben. Dann standen sie in einer riesigen Höhle und sahen sich nach allen Seiten um.
„Donnerwetter“, murmelte Martin beeindruckt. „Das ist ja hier wie in einem riesigen Dom.“
Seine Worte verdoppelten und verdreifachten sich. Aus dem Flüstern wurde ein Knurren, dann ein Grollen. Martin Correa war das nicht ganz geheuer.
„Eine Kalkstein- oder Tropfsteinhöhle“, sagte Jean Ribault. „Ich war mal in Frankreich in so einem unterirdischen Gewölbe, fast einen ganzen Tag lang, weil ich mich einfach nicht satt sehen konnte.“
Die Wunderwelt der Tropfsteine nahm sie auf. Martin starrte auf versteinerte Zaubergärten, blickte zur Decke und sah die riesigen Stalaktiten, die von dort herabwuchsen. Im Licht ihrer Fackeln schien diese wundersame Welt zu leben. Und sie schillerte in den unglaublichsten Farben.
Martin blieb stehen und starrte in eine Ecke, die wie ein vielfarbiger Korallengarten aussah. Auch er konnte sich an dem Anblick nicht satt sehen, doch Jean Ribault drängte zur Eile.
„Später können wir alles erkunden“, sagte er. „Jetzt müssen wir den Admiral suchen, denn der hat sich hier gründlich verirrt. Er hatte nämlich keine Fackel dabei.“
„Vielleicht hat er den Zunderschwamm ein bißchen glimmen lassen. Dann muß ihn der Anblick umgehauen haben, denn er sah nur noch Geister um sich herum.“
Bei dieser Vorstellung grinsten sie beide, denn sie kannten die Furcht des Alten vor solchen Dingen. Wenn er wirklich etwas gesehen hatte, dann war er hier sicher schreiend und entnervt herumgesprungen.
Sie drangen weiter vor und konnten sich mit den hellen Fackeln auch viel besser orientieren als Old O’Flynn mit seinen dünnen Spänen.
Diesmal war es Jean Ribault, der plötzlich stehenblieb, so daß Martin gegen ihn prallte.
„Was ist?“ fragte er heiser.
Da war irgendwo in dieser riesigen und weitverzweigten Höhle ein Geräusch, das sich nicht definieren ließ. Es hörte sich nach einem Brummen an, doch das Echo verzerrte alles.
Martin Correa griff nach seiner Pistole.
„Hört sich nach einem Bären an“, hauchte er, „vielleicht ist das eine Bärenhöhle.“
„Das ist mir neu, daß es auf den Inseln Bären gibt“, sagte Jean Ribault. „Das muß was anderes sein. Folgen wir dem Geräusch.“
Sie brauchten dem Geräusch nicht lange zu folgen. Es wurde auch immer lauter.
Dann standen sie grinsend vor Old Donegal, der tief und fest schlief und so gewaltig und laut schnarchte, daß die Tropfsteine wackelten.
Neben ihm lagen die kümmerlichen Überreste des Holzbeines, und sie sahen auch, daß er seinen Weg markiert hatte, um aus diesem Labyrinth herauszufinden.
Beide Männer sahen sich grinsend an. Da war er ja, der alte Wüterich, und ihm fehlte offenbar nichts weiter als sein Holzbein, das vermutlich bei seiner Rutschfahrt in Trümmer gegangen war. Mit den Resten davon hatte er versucht, behelfsmäßige Fackeln zu entzünden.
Aber jetzt war er total abgeschlafft und erledigt. Das Umherirren hatte ihn maßlos erschöpft.
„Kerngesund“, stellte auch Martin fest, „aber total erledigt. Der muß hier fast verrückt geworden sein vor Angst.“
Er bückte sich, um den „Admiral“ zu wecken. Doch auch als er ihn etwas gröber anstieß, reagierte der Alte nicht. Mit halboffenem Mund schnarchte er unverdrossen weiter.
„Was jetzt? Der Bursche schläft so tief und fest wie noch nie in seinem Leben.“
„Wir lassen ihn schlafen. Ich trage ihn, er ist ja nicht schwer. Halt du mal die Fackeln.“
Jean Ribault lud sich den Schnarchsack kurzerhand auf den Rücken. Auch das merkte Old O’Flynn nicht, er ratzte weiter wie ein alter Biber.
„Für die Höhle bleibt uns noch genügend Zeit“, sagte Jean, „jetzt müssen wir ihn erst einmal nach oben hieven.“
Sie schafften es wesentlich schneller als Old O’Flynn, den Ausgang zu finden. Es wurde nur noch einmal problematisch, ihn durch den steilen Gang zu bringen. Aber nach einer endlos scheinenden Kraxelei war er endlich oben.
Ribault legte ihn schnaufend in den Sand.
„Da ist dein gutes Stück, Mary“, sagte er trocken. „Ihm fehlt nichts, nur sein Holzbein ist zertrümmert.“
„Wir haben an Bord noch eins. Ferris Tucker hat ja immer gleich Ersatz hergestellt, weil das auch so eine Macke von ihm ist, mit dem Ding überall anzuecken, oder Haifische damit zu verprügeln. Aber ich bin heilfroh, daß ihm weiter nichts fehlt. Nur Väterchen O’Flynn schläft so fest, als hätte er einen Vollrausch.“
Sie erzählten in knappen Worten, wie es da unten aussah. Dann begann Mary O’Flynn, den alten Zorngockel mit dem Finger zu pieksen, damit er aufwachte.
„Das gibt es gar nicht“, sagte sie erstaunt. „Oder hat er doch eine Buddel dabeigehabt und einen gegluckert? Wundern würde mich das nicht.“
„Er hatte jedenfalls nichts dabei. Aber die Geister da unten werden ihm recht übel zugesetzt haben.“
„Hoffentlich“, sagte Mary inbrünstig, „kann sein, daß er dadurch etwas vernünftiger geworden ist.“
„Oder noch bestußter“, fügte Martin respektlos hinzu. „Man kennt das ja zur Genüge.“
„Gehen wir“, sagte Ribault und wollte sich wieder bücken. Doch diesmal kam ihm Don Juan zuvor.
„Jetzt bin ich an der Reihe“, sagte er. Er schnappte sich den Ratzemann, nahm ihn huckepack und marschierte in die Richtung zurück, wo von ferne schwach das Feuerchen brannte und die anderen immer noch hockten und den restlichen Wein tranken.
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